In Malmö explodiert eine Bombe vor einer Polizeistation. In Göteborg wird eine Handgranate in ein Wohnhaus geworfen; ein kleines Mädchen kommt dabei ums Leben. In einem Stockholmer Vorort brennen Autos. Es sind Nachrichten wie diese, die aufhorchen lassen, die es oft bis in die Nachrichten in Deutschland schaffen. Dabei ist die Rede von No-Go-Areas, von Gangs, die ganze Stadtteile kontrollieren und terrorisieren, von Morden auf offener Straße. Es stellt sich die Frage, weshalb solche Nachrichten viele Menschen aufschrecken: Liegt es an den Taten an sich oder vielmehr daran, dass sie sich in Schweden ereignen? In Schweden – dem Land von Bullerbü und bunten Mittsommerkränzen in blonden Haaren, dem Land idyllischer Landschaft und ABBA-Pop, der keinem wehtut. Und daran schließt sich gleich eine zweite Frage an: Nehmen wir Gewalttaten in Schweden aufgrund dieses Kontrasts mit dem Schwedenbild, das viele haben, besonders wahr? Oder ist es in Schweden tatsächlich gefährlich?
Wir wollen dieser Frage nachgehen: Wie gefährlich ist Schweden? Bevor wir uns aber von den Bildern einzelner – zweifelsohne brutaler – Verbrechen leiten lassen, wühlen wir uns lieber durch die Statistiken. Dort bekommen wir hoffentlich Antworten und Einsichten in die Kriminalität in Schweden.
Die offizielle Statistik über Verbrechen und Kriminalität in Schweden wird vom Brå, dem Brottsförebyggande rådet, dem Zentrum für das Wissen über Verbrechen und Maßnahmen gegen diese Verbrechen, geführt. Viele der hier angeführten Zahlen haben wir aus dem Bericht für das Jahr 2019.
Zunächst einmal die wichtigsten Zusammenfassungen: Die Kriminalität in Schweden sinkt deutlich. Die Zahl der Handgranatendetonationen ist beispielsweise von 2016 bis 2018 um die Hälfte gesunken. Einbrüche in oder Diebstahl von Autos kommen im Vergleich zum Jahr 2000 viel weniger vor. Jahr für Jahr sinken die Zahlen.
„Moment mal!“, mag da jemand einwerfen und das Gegenteil behaupten: In Schweden wird es immer gefährlicher. Schließlich wurden im Jahr 2019 1 500 000 Taten gemeldet! Nochmal in Worten: Einskommafünfmillionen Taten! Und das bei zehn Millionen Einwohnern. Das ist eine hohe Zahl, und sie liegt weit über den Zahlen der 70er, 80er oder 90er Jahre. Oder man schaue sich nur die stetig steigenden Ziffern an, wenn es um Vergewaltigungen oder tödlich ausgehende Schießereien geht.
Kriminalitätsstatistiken sind ein heikles Feld. Anfällig für Fehldeutungen und so vielschichtig, dass sich jeder die Aspekte herauspicken kann, die ihm gerade zupasskommen. Der Rechtspopulist findet den Beweis, dass Migranten mehr Verbrechen begehen, der Linkspopulist, dass die Polizei mehr und mehr versagt, der Warner, dass Schweden immer unsicherer wird, der Beschwichtiger, dass Schweden sicher ist.
Diese Anfälligkeit für Fehldeutungen hat mehrere Ursachen. Ob Verbrechen in Schweden steigen oder abnehmen, hängt zum Beispiel vom Zeitintervall ab, das man betrachtet. Nehmen wir mal die Handgranatendetonationen von oben als Beispiel: Es ist richtig, von 2016 bis 2018 halbierte sich die Zahl von 40 auf 20. Aber: Berücksichtigt man, dass es in den Jahren 2011 bis 2014 nie mehr als zehn Detonationen pro Jahr gab, dann sind 20 plötzlich ganz schön viel. Es mögen jetzt mehr Morde geschehen als in den 1980er Jahren. Wie der Cambridge-Professor für Kriminologie Manuel Eisner aber herausfand, sind die heutigen Mordzahlen geradezu ein Witz gegenüber denjenigen aus dem 15., dem 16. oder dem 17. Jahrhundert. Damals wurde deutlich eifriger gemordet – und zugleich weniger aufgeklärt.
Ein anderer Grund zur Vorsicht ist, dass in den allgemeinen Statistiken von Brå zunächst einmal alle Formen der Kriminalität aufgenommen sind – vom Fahrraddiebstahl über die Vergewaltigung bis zum Mord. Und die Entwicklungen innerhalb der einzelnen Verbrechensarten sehen teils sehr unterschiedlich aus und lassen damit auch völlig andere Rückschlüsse zu.
Hinzu kommen Gesetze, die sich verändern und zum Beispiel etwas als Verbrechen deklarieren, was für einigen Jahrzehnten vielleicht noch kein Verbrechen war. Oder die die Zuordnung zu einer Kategorie verschieben. Einige Taten, die heute in Schweden als Vergewaltigung gelten, wurden vor ein paar Jahren noch als sexuelle Belästigung eingestuft. Gerade bei sexuellen Delikten und auch bei häuslicher Gewalt ist heute die Bereitschaft, eine Tat der Polizei zu melden, zudem deutlich höher als noch in der Mitte des 20. Jahrhunderts.
All das beeinflusst die Statistiken und ihre Lesart. Eine gewisse Vorsicht ist also geboten, wenn jemand vorschnell Schlüsse zieht und die Statistiken für eine bestimmte politische Agenda instrumentalisiert.
Nun aber endlich zu den Zahlen. Was geben sie her? Ist Schweden so gefährlich, wie es manchmal erscheint? Oder ist das alles an den Haaren herbeigezogen?
Zur Anzeige gebrachte Straftaten in Schweden; Quelle: bra.se
2019 wurden 15.040 Verbrechen pro 100.000 Einwohner in Schweden gemeldet. 1990 waren es 14.240. In den letzten 30 Jahren stieg die Kriminalität also nur leicht an. Eine deutlich heftigere Entwicklung lässt sich aber zwischen den Jahren 1975 und 1990 herauslesen. In der Mitte der 70er Jahren waren es nämlich nur etwa 9.000.
Interessant ist der Vergleich zwischen den nordischen Ländern. Eine EU-weite Umfrage ergab, dass in Schweden 13 Prozent der Befragten Kriminalität, Gewalt oder Vandalismus im eigenen Wohnviertel erlebten. Damit liegt Schweden auf ungefähr gleichem Niveau wie Deutschland, aber deutlich über den nordischen Nachbarn. In Norwegen gaben dies 2018 nur 4,2% an, in Finnland 7% und in Dänemark 7,4%. Diese Studie lässt also den Rückschluss zu, dass Schweden im Vergleich zu anderen skandinavischen Ländern ein größeres Problem mit Kriminalität hat.
Das gilt aber nicht für jede Art von Verbrechen. Autodiebstähle, Einbrüche und Ladendiebstähle gehen beispielsweise in den letzten Jahren deutlich zurück, was sicherlich die Besitzer von Ferienhäusern freuen wird. Ganz anders sieht es aber bei Vergewaltigungen aus, die kontinuierlich steigen, und vor allem bei der organisierten Kriminalität. Zum Beispiel gab es in den vergangenen Jahren einen starken Anstieg bei tödlich ausgehenden Schießereien im kriminellen Milieu. Innerhalb Europas gruppiert sich Schweden da ein in die traurige Spitzengruppe.
Amir Rostami, Kriminalitätsforscher an der Universität in Stockholm, bestätigt dies. Er sieht aktuell zwei Tendenzen: zum einen ein sinkendes Niveau bei „Alltagsdelikten“, zum anderen einen Anstieg bei der organisierten Kriminalität.
Von dieser Gangkriminalität, die alles von Drogendelikten, Raub, Erpressung bis hin zum Mord umfasst, sind einige Stadtteile vor allem in den drei größten Städten Stockholm, Göteborg und Malmö besonders betroffen, wohingegen ländliche Regionen davon meist völlig verschont bleiben. Jahr für Jahr gibt die schwedische Polizei eine Liste mit besonders gefährdeten Stadtteilen heraus. Die „Topplatzierten“ in diesen zweifelhaften Rankings sind diejenigen Stadtteile, die es immer wieder auch in die internationalen Medien schaffen: Rosengård in Malmö, Biskopsgården und Bergsjön in Göteborg, Rinkeby und Husby in Stockholm. Aber auch Bezirke in Örebro, Växjö, Landskrona oder Linköping sind darauf zu finden.
No-Go-Areas sind diese Stadtteile nicht, aber Orte, an denen es der Polizei schwerfällt, ihren Auftrag zu erfüllen, und an denen es parallele Gesellschaftsstrukturen und extremistische Auswüchse gibt. Nachts muss man hier nicht unbedingt alleine unterwegs sein. Aber normalerweise suchen Urlauber diese Orte ohnehin nicht auf.
In den genannten Stadtteilen ist der Anteil von Ausländern oder Schweden mit Migrationshintergrund meist deutlich höher als im Rest des Landes. Auch hört man immer wieder von den rechtspopulistischen Schwedendemokraten, dass die Kriminalität seit dem stark steigenden Zustrom an Flüchtlingen in die Höhe ging. Ist da etwas dran?
Die Schwedendemokraten versuchen sich mal wieder in Pseudokausalität, die sich jedoch nicht durch irgendeine Statistik bestärken lässt. Ja, die Zahl der Toten aufgrund von Schusswechseln oder Handgranatendetonationen ist in den letzten fünf Jahren gestiegen. Hintergrund dieser Taten sind aber meist Konflikte innerhalb des Gangmilieus; sie haben also nichts mit Flüchtlingen zu tun.
Hingegen gibt es Belege, dass nicht in Schweden Geborene häufiger eines Verbrechens verdächtigt oder überführt werden. In einer Brå-Untersuchung aus dem Jahr 2005 kam heraus, dass die Wahrscheinlichkeit, dass ein nicht in Schweden Geborener ein Verbrechen begeht, 2,5 Mal höher ist als bei einem Schweden mit schwedischen Eltern. Selbst wenn man andere Risikofaktoren wie den sozioökonomischen Hintergrund, Ausbildung, Alter usw. herausrechnet, ist das Risiko noch immer 2,1-fach höher. Bei in Schweden Geborenen, deren Eltern Nicht-Schweden sind, ist das Risiko immerhin noch 1,5 Mal höher.
Aber auch hier gilt es, vorsichtig mit voreiligen Schlüssen zu sein. Denn die meisten Taten wurden nicht etwa von Flüchtlingen oder von Migranten aus den nordafrikanischen Staaten verübt, wie manch ein Rechtspopulist glauben lassen möchte. Nein. Die Hälfte aller Verbrechen, die von nicht in Schweden Geborenen ausgehen, gehen auf das Konto von anderen Nordeuropäern, von Norwegern, Dänen und Finnen also.
Ein einheitliches Bild ergibt sich beim Blick in die Statistiken somit nicht. Eindeutige Rückschlüsse zu ziehen, ist ebenso nicht so einfach.
Dass Schweden – gerade im Vergleich mit seinen nordischen Nachbarn – ein Problem mit Kriminalität hat, ist nicht zu leugnen. Vor allem die Gangkriminalität in den Großstädten stellt die Polizei und die Gesellschaft vor große Herausforderungen. Urlauber, Geschäftsreisende oder Ferienhausbesitzer kommen damit aber normalerweise nicht in Kontakt. Für sie sind eher die Statistiken zu Einbrüchen und Diebstählen interessant. Und hier ergibt sich ein eher rückläufiges Bild.
Natürlich, sicher vor Einbrüchen ins Auto oder das Ferienhaus ist man nie. Auch nicht vor einem Fahrraddiebstahl oder dem Klau des Rucksacks. Die Wahrscheinlichkeit, Opfer eines solchen Verbrechens zu werden, ist in den letzten Jahren allerdings gesunken.
Für den normalen Schwedenurlauber, der sich nicht gerade mit kriminellen Gangs in den Großstädten einlässt, ist Schweden daher vor allem eines: sicher.