Der Priester hat die Kapuze seiner Kutte tief ins Gesicht gezogen, als er an uns vorbeizieht. Nur wenige Meter weiter sitzt eine Hexe mit wildem Haar hinter einem brodelnden Topf. Wer will, kann giftgrüne Getränke an ihrem Stand kaufen. Dann kommt uns ein großer Mann mit seltsamen ledernen Klamotten entgegen, die nur entfernt nach Mittelalter aussehen. Der Ritter dort hinten mit Pferd und Harnisch sieht da schon echter aus. Fasziniert beobachten wir das bunte Treiben in Visby auf Gotland. Es ist Anfang August. Mittelalterwoche.
Jedes Jahr in der ersten Augustwoche findet in Visby die medeltidsveckan statt. Ganz Visby steht dann im Zeichen des Mittelalters – und auch ein wenig Kopf. In Turnieren kämpfen Ritter um Ehre und Sieg, auf den Bühnen der Stadt spielen Mittelalterbands, auf dem Markt kann man endlos stöbern zwischen Schmuck, Stoffen, Lederhandwerk und und und.
40.000 Besucher kommen Jahr für Jahr Anfang August in die größte Stadt auf Gotland, was bei einer Einwohnerzahl von knapp über 20.000 eine ganze Menge ist. Wahrscheinlich bietet sich keine schwedische Stadt besser für ein Mittelalter-Festival an. Denn in Visby ist das Mittelalter noch an vielen Orten lebendig. Daher lohnt sich ein Besuch immer, nicht nur während der medeltidsveckan.
Visby – Stadt der Rosen und Ruinen
Visby, die Stadt der Rosen und Ruinen, ist eine der schönsten Städte Schwedens. Verwinkelte Gassen, lebendige Marktplätze, an gefühlt jeder zweiten Ecke eine Ruine, und dann natürlich die imposante Stadtmauer mit ihren 44 Türmen – völlig zu Recht wurde die Altstadt 1995 ins UNESCO-Weltkulturerbe aufgenommen.
Das älteste noch stehende Gebäude in Visby ist der Kruttornet, der Pulverturm, erbaut etwa in der Mitte des 12. Jahrhunderts. Von hier aus gehen wir dem Ufer folgend stadtauswärts, bis wir die mächtige Stadtmauer erreichen. Diese wurde im Jahr 1270 fertiggestellt und schützte in einem 3,5 Kilometer langen Halbrund die Stadt vom Umland. Die Mauer ist ein absolutes Muss, wenn du in Visby bist. Immer wieder bleiben wir stehen, staunen, sind beeindruckt, machen unzählige Fotos. Wohl den schönsten Blick auf die Mauer hat man von den Östergravar.
Die gotländischen Bauern im Jahr 1361 werden die Mauer verflucht haben. Denn für sie bot sie keinen Schutz, im Gegenteil: Sie bedeutete ihren Untergang.
Glanz und Schandfleck: die wechselvolle Geschichte Visbys
Im 13. und 14. Jahrhundert erlebte Visby seine Blüte. Die Hanse wuchs zum mächtigen Handelsbund im Norden heran. Waren aller Art wurden über Nord- und Ostsee geschippert, unter anderem Felle aus Nowgorod, wo sich das wichtige Hansekontor für den Russlandhandel befand. Vom Handel mit Russland profitierte Visby enorm, schließlich lag es an der perfekten Schnittstelle vieler Handelsrouten. Mehrere Klöster, viele Kirchen, prächtige Gebäude und eben die Stadtmauer wurden in dieser Zeit errichtet. Zugleich verschärften sich die Spannungen mit der Hansestadt Lübeck, denn beide Städte wollten den Russlandhandel kontrollieren. Und je mehr Lübeck an Bedeutung innerhalb der Hanse gewann, desto mehr verlor Visby.
1361 griff der dänische König Valdemar Atterdag Gotland an. Die gotländischen Bauern stellten sich ihm entgegen, verloren aber die ersten beiden Schlachten. Die verbliebenen Bauern sammelten sich vor den Toren der Stadt Visby, wohl, weil sie sich Hilfe von den Städtern erhofft hatten. Doch die Stadttore blieben verschlossen. Und so wurden die Bauern von den Söldnern des Dänenkönigs niedergemetzelt, während die Bewohner der Stadt von der Mauer aus zusahen. Nach dieser Schlacht übergaben sie die Stadt kampflos. Sie mussten zwar Tribut an die Dänen bezahlen, konnten so aber ihre Privilegien behalten.
Ein Glücksfall für das heutige Visby: die Zerstörung der Stadt 1525
In der Folgezeit verlor Visby dennoch immer mehr an Bedeutung, während der Konflikt mit Lübeck weiterschwelte. 1525 schließlich griffen die Lübecker an und zerstörten Kirchen und Klöster. Nur die Kirche der deutschen Kaufleute, St. Maria, ließen sie stehen. Andere Kirchen, die den Angriff überstanden, wurden nach der Reformation vernachlässigt und verfielen. Für das heutige Stadtbild war diese traurige Entwicklung großes Glück! Denn die Ruinen blieben stehen und so können unzählige alte Kirchen bzw. die übriggebliebenen Mauern besichtigt werden.
Und diese Ruinen sind unglaublich schön. Wir streifen zwischen Mauern und Bögen umher, und lassen unsere Phantasie ins Mittelalter abschweifen. Wir bräuchten keine Mittelalterwoche, um uns lebhaft vorzustellen, wie es vor mehr als 500 Jahren hier aussah. Die Ruinen sind tot, erzählen aber so anschaulich, dass sich alles mit Leben füllt. Beispielsweise die Ruine St. Katarina, vielleicht die schönste unter all den Ruinen. Oder die alte Dominikaner-Kirche St. Nicolai. Oder Drotten. Oder St. Clemens. Ach, eigentlich ist es egal, wohin wir uns wenden, faszinierend sind sie alle.
Doch nicht alle Gebäude sind verfallen. Neben der Stadtmauer steht noch die Kirche St. Maria, die heute die Domkirche ist. Ebenfalls aus dem 13. Jahrhundert stammt die sog. „Alte Apotheke“, ein herrschaftliches Gebäude mit dem typisch hanseatischen Staffelgiebel. Aber sie ist nur eines von etwa 150 mittelalterlichen Gebäuden, die noch erhalten sind.
Gemütliche Cafés in einer gemütlichen Stadt
So schlendern wir durch die Stadt und genießen nicht nur die alten Ruinen und Gebäude, sondern auch die engen Gassen. Besonders schön ist es hier, wenn die Rosen blühen, zum Beispiel im Fiskargränd.
Irgendwann sind wir müde. Es ist Zeit für fika, wozu die unzähligen gemütlichen Cafés in der Altstadt einladen. Sehr süß und gemütlich ist die Crêperie och logi im Strykjärnshus. Ebenso winzig, gemütlich und lecker: das Café Gula Huset in der Tranhusgatan.
Politik als Event: die Almedalsveckan
Von hier aus wandern wir wieder am Pulverturm vorbei und kommen in den Almedalen-Park. In diesem Park hielt der frühere schwedische Premierminister Olof Palme oftmals Reden. Aus dieser Tradition heraus entwickelte sich allmählich die Almedalsveckan, eine Woche Anfang Juli, die ganz der Politik und der politischen Diskussion gewidmet ist. Alle Parteichefs sind vor Ort, es werden Reden gehalten, Seminare durchgeführt und diskutiert und debattiert. 35.000 Menschen nahmen 2014 teil – Politik als Event, bei dem Politiker und Wähler zusammenkommen und gesellschaftliche Diskurse auf breiter Basis verhandelt werden.
Ein politischer Diskurs hätte den beiden Streithähnen Visby und Lübeck im Mittelalter vielleicht auch ganz gut getan. Dass sie sich aber nicht nur bekriegen, sondern sich auch auf ihre Gemeinsamkeiten und die historische Verbindung zwischen beiden Städten besinnen können, haben sie ebenfalls bewiesen. Seit 1999 sind Lübeck und Visby Partnerstädte.
Anreise nach Visby:
- Mit der Fähre von Oskarshamn und Nynäshamn
- Mit dem Flugzeug von Stockholm, Göteborg, Malmö und anderen Orten
Du willst nicht nur Visby sehen, sondern weitere Ausflüge auf Gotland machen? Dann empfehlen wir:
- Im Kneippbyn wenige Kilometer von Visby entfernt steht die originale Villa Kunterbunt, die als Kulisse in den Pippi Langstrumpf-Filmen diente.
- Bekannt ist Gotland für die Raukar, bizarre Kalksteinsäulen, die an der Küste stehen. Die schönsten findest du auf der Insel Fårö im Nordosten Gotlands.
- Fårö ist zudem die Heimat des Regisseurs Ingmar Bergman, der hier 2007 verstarb. Direkt neben dem Fårö-Museum lädt das Bergman-Center zum Besuch ein.
- Wer etwas mehr Zeit mitbringt, setzt zur Gotska Sandön über und genießt im dortigen Nationalpark endlose Sandstrände und eine Insel fast ganz für sich.
Visby und Gotland sind für uns ganz besonders magische Orte in Schweden – weshalb sie in unserem Traumzielranking nicht fehlen dürfen.