Es ist ein warmer Sommertag kurz nach Mittsommer, der 25. Juni 1888. In Sundsvall herrscht wie immer reges Treiben. Am Hafen entlang des Flusses Selångersån wird Holz aus den tiefen und weiten Wäldern Norrlands auf die wartenden Schiffe verladen. Auf Karren werden Säcke zu den Booten oder von ihnen weg zu den Magazinen der Stadt gebracht. Nichts deutet darauf hin, dass dieser Tag als einer der schwärzesten in die Geschichte Sundsvall eingehen wird. Aber er wird auch den Anfang eines grandiosen Neubeginns darstellen.
Ende des 19. Jahrhunderts ist Sundsvall eine geschäftige Stadt. 11.000 Einwohner zählt sie – zu dieser Zeit und so weit im Norden ist das eine beachtliche Zahl. Die meisten Menschen verdingen sich als Arbeiter im Hafen oder in der Industrie, die die Stadt prägt. In den Wäldern Medelpads und weiter Richtung norwegischem Gebirge werden Unmengen an Bäumen gefällt, das Holz in Sundsvall verarbeitet und verschifft. Überall wird gesägt und gehämmert, der Lärm muss unerträglich gewesen sein. In Sundsvall und auf der vorgelagerten Insel Alnön entstehen unzählige Sägewerke. So viele, dass Sundsvall Ende des 19. Jahrhunderts gar die Stadt ist, die weltweit die höchste Sägewerksdichte aufweist.
Der Dichter Elias Sehlstedt, der die Stadt bereist, hält seine Eindrücke 1872 in diesem Wortspiel fest:
„Och hela hamnen som en spegel låg, och såg vid såg jag såg hvarthelst jag såg.”
(Und der gesamte Hafen lag da wie ein Spiegel, und Säge an Säge sah ich, wo auch immer ich hinsah.“)
Elias Sehlstedt, 1872
Holz macht steinreich. Zumindest manche.
Das Holz macht einige steinreich. In opulenten Villen richten sich die Holzbarone ein. Ihr Reichtum steht jedoch im krassen Gegensatz zur Masse der Arbeiter, die in einfachsten Verhältnissen lebt. 1879 schließen sie sich zusammen, um für ihre Rechte und vor allem eine bessere Bezahlung zu kämpfen. Sie legen die gesamte Holzproduktion lahm. Nichts geht mehr. Der Sundsvallstreik zählt zu den frühesten und größten Arbeitskämpfen, die Schweden je erlebt hat. Eine Einigung wird aber nicht erzielt, sondern es wird lieber das Militär geschickt, das den Streik beendet.
Die Arbeiter leben in einfachen Holzhäusern, die dicht an dicht unter anderem im Westen der Stadt stehen. Irgendwo hier springt der Funke über. Vielleicht von einem Dampfboot, das am Flussufer liegt. Man weiß es nicht genau. Jedenfalls fängt es an jenem 25. Juni 1888 an zu brennen. Der kräftige Wind trägt die Flammen in rasender Geschwindigkeit von Haus zu Haus, über Straßenzüge hinweg, bis kurz darauf die ganze Stadt in Flammen steht. Das Kleid einer Frau fängt Feuer, woraufhin sie sich in Todesangst in einen Teich stürzt – in dem sie jedoch ertrinkt. Das Feuer vertilgt alles. Am Abend des gleichen Tages ist von der Stadt nahezu nichts mehr übrig. 9.000 der 11.000 Bewohner sind obdachlos geworden.
Wo Sundsvall ist, war lange Meer.
Die Stadt hat schon früher Brände gesehen, aber keiner war so verheerend wie dieser. Auch Zerstörung und Plünderung musste die 1621 von König Gustav II Adolf gegründete Stadt über sich ergehen lassen. Einhundert Jahre nach der Gründung wurde sie im Großen Nordischen Krieg von den Russen heimgesucht. Die letzte Schlacht dieses den Norden so verändernden Kriegs fand in Selånger statt und endete mit einer Niederlage für die Schweden.
Hier in Selånger befand sich, lange bevor Sundsvall die Stadtprivilegien erhielt, im Mittelalter ein kleiner Hafen. Heute liegt dieser winzige Ort westlich von Sundsvall, am gleichnamigen Fluss, aber ein gutes Stück weg vom Meer, was mit der skandinavischen Landhebung zu tun hat. Seitdem die massiven Gletscher der Eiszeit geschmolzen waren, hob sich das darunterliegende Land langsam an. Dort, wo heute Sundsvall erbaut ist, war vor 8000 Jahren noch tiefer Meeresgrund. 270 Meter unter dem heutigen Niveau. Die Gipfel der beiden Berge – Södra und Norra Berget –, die sich südlich und nördlich der Stadt erheben, ragten als Inseln aus dem Meer heraus. Noch immer hebt sich das Land, nun aber deutlich langsamer und nur noch wenige Millimeter innerhalb eines Jahrzehnts.
In Selånger jedenfalls steigt im Jahr 1030 der norwegische und christliche König Olof Haraldsson an Land, um von hier Richtung Trondheim, das damals Nidaros hieß, zu ziehen, die Krone zurückzuerobern und die Norweger zum rechten Glauben zu bekehren. Das endete zwar nicht glücklich – Olof fiel in der Schlacht bei Stiklestad –, aber immerhin wurde er daraufhin als Märtyrer heilig gesprochen und noch heute gibt es den Sankt-Olofs-Pilgerweg von Sundsvall (bzw. Selånger) nach Trondheim – 580 Kilometer hinauf ins Gebirge und bei Trondheim wieder hinunter an den Atlantik.
Aus der Stadt des Holzes wird die Stadt aus Stein.
All das wird den Bewohnern Sundsvall am 25. Juni 1888 herzlich egal gewesen sein. Vergebens kämpfen sie gegen die Flammen und müssen irgendwann einsehen, dass ihre Stadt nicht zu retten ist. Nur wenige Häuser entkommen den Flammen, beispielsweise die Magazine am Nordufer des Flusses. Sie bleiben noch bis in die 1970er Jahre stehen, ehe sie aufgrund ihres schäbigen Aussehens abgerissen werden.
Der Brand ist nicht das Ende. Sondern ein Neuanfang.
Schnell wird ein Plan gefasst, wie die Stadt wieder neu aufgebaut werden kann. Die Gelder aus den Brandschutzversicherungen und die Investitionen der Holzbarone legen die Grundlage. Die neue Stadt soll aber besser gegen Flammen geschützt sein. Deswegen beschließt man, sie komplett in Stein zu erbauen. Es wächst heran, was heute als stenstan – die Steinstadt – bekannt ist.
Meist drei- oder viergeschossige Steinhäuser werden errichtet, viele davon mit prächtigen Fassaden, Türmchen und hohen Fenstern geschmückt. Innerhalb von nur sechs Jahren entstehen fast 600 neue Gebäude. Die boulevardähnliche Hauptstraße führt breit und von Bäumen gesäumt über den großen Marktplatz durch die Stadt. Das wirkt mondän, großstädtisch und ist für eine Stadt so weit im Norden außergewöhnlich. 2017 küren die Schweden die stenstan zur schönsten Stadt Schwedens. Ob dem wirklich so ist, sei dahingestellt, sehenswert ist die Stadt aus Stein mit den vielen prachtvollen Gebäuden aus der Zeit der Jahrhundertwende aber allemal.
Aussicht, Fika und eine Fake News auf dem Norra Berget
Es lohnt der Blick in die Eingangshalle des Hotels Knaust oder gleich eine Übernachtung dort. Beim Emporschreiten der monumentalen Treppe aus Carrara-Marmor bekommt man ein Gefühl dafür, welchen Reichtum und welches Selbstbewusstsein manche der Fabrikanten vor über 100 Jahren hatten.
Ein anderes mächtiges Steingebäude, das kulturmagasinet, beherbergt das Stadtmuseum, das in einer kleinen, aber sehr anschaulichen Ausstellung über den Brand und den Neuaufbau informiert.
Nicht alle Häuser sind aber aus Stein. Der alte Bahnhof hat beispielsweise Brand und die Zeit überdauert. Eine Zeitlang beherbergte er das Kasino der Stadt, momentan erinnert er leerstehend daran, dass die Steinstadt früher eine Holzstadt gewesen ist. Das macht auch das Freilichtmuseum auf dem Norra Berget. Inspiriert von Hazelius‘ Skansen in Stockholm sammelte man auch hier Häuser aus dem 18. und 19. Jahrhundert, um die frühere Zeit in Erinnerung zu behalten. Neben einer alten Schmiede, Bauernhöfen, Scheunen findet man hier auch ein Café, das auf sehr gemütliche Weise zu einer Fika-Pause einlädt, ein Restaurant, einen Streichelzoo und einen Aussichtsturm, von dessen Spitze aus sich Sundsvall und die Bucht unter einem ausbreitet.
In der Nähe des Aussichtsturms steht der Röklandsgården, angeblich stammt er aus dem frühen 18. Jahrhundert und wurde 1721 von einer alten Frau bewohnt. Als sich die russische Flotte näherte, flohen alle Hals über Kopf. Die alte Frau jedoch war zu müde und alt dazu. Daher kochte sie einen riesigen Topf voll Brei. Den aßen die russischen Soldaten dann nach vielen Tagen auf der See dankbar auf – und verschonten zum Dank die Alte und ihren Hof. So die Geschichte. Untersuchungen ergaben jedoch, dass das Haus deutlich nach 1721 erbaut wurde. Außerdem gibt es aus anderen Orten, die von den Russen im Großen Nordischen Krieg heimgesucht wurden, ähnliche Erzählungen. Fake News sind, wie man sieht, keine Erfindung unserer Zeit.
Sundsvall ist Soundsvall.
Der Stadtkern Sundsvalls hat sich seit der Jahrhundertwende nicht mehr stark verändert. Die Stadt aber schon. Die Industrie ist zwar immer noch bedeutend, allerdings lange nicht mehr so stark wie im 19. Jahrhundert. Heute präsentiert sich Sundsvall als lebenswerte Stadt, die mit exzellenten Restaurants und viel Musik aufwartet.
2019 eröffnet Johan Backéus zusammen mit seiner Frau Birgit Malmcrona das Restaurant „Naturaj“ in der Torggatan 1. Backéus ist gebürtig aus Sundsvall, machte dann aber in Stockholm als Koch Karriere (er wurde 2017 zum Koch des Jahres – årets kock – gekürt) und kehrte schließlich in seine Heimat zurück. Das „Naturaj“ bietet 40 Sitzplätze, viele davon am Küchentresen, sodass man dem Starkoch bei seinem Kunsthandwerk zuschauen kann.
Musikalisch spielt Sundsvall inzwischen in der 1. Liga mit und nennt sich charmant-selbstbewusst auch Soundsvall. 66 Konzerte und Festivals fanden allein im Jahr 2022 statt. Am herausragendsten sind das Sundsvall Torgfest an drei Tagen im Juli – 2022 unter anderem mit Lars Winnerbäck –, das Umsonst & Draußen-Festival Sundsvall Bjuder und die Sensommar-Konzerte im Stadion.
Runter die Hügel, rauf auf die Dächer
Neben Kultur bietet Sundsvall auch viel Outdoor. Kajakfahren auf Fluss und Meer, Segeln, Wandern oder Mountainbiken – alles möglich. Auf dem südlichen Berg, auf dessen Spitze ein riesiges Hotel thront, von dessen Pool aus sich eine grandiose Aussicht eröffnet, wurde vor ein paar Jahren ein Mountainbikepark angelegt, der noch immer mit neuen Routen erweitert wird. Hier kann sich jeder in seinem Schwierigkeitsgrad auspowern.
Und wer aktiv sein möchte, aber dabei dennoch mitten in der Steinstadt sein will, der kann auf deren Dächer kraxeln. Gut gesichert finden täglich Touren über die Blechdächer der Stadt statt. Wer nicht an Höhenangst leidet, dem ist dieser Blick von oben wärmstens ans Herz gelegt. Der Blick auf die Stadt aus Stein, die einst eine Stadt des Holzes war.
Hallo,
wirklich ein toller und ausführlicher Beitrag mit vielen Infos 🙂
Wir waren vor zwei Jahren auf unsere Schweden Tour auch in Sundsvall.
Da wir aber nur auf der Durchreise waren hatten wir leider nur ein paar Stunden in der Stadt, aber sie hat uns trotzdem sehr gefallen.
Wenn wir die ganzen Infos aus diesem Beitrag gehabt hätten wären wir sicher länger geblieben 🙂
Viele Grüße,
Tanja und Martin
Unglaublich schöne Stadt!
Definitiv! 🙂