Menschen und Gesellschaft Stockholm

Stockholm im Jahr der Corona-Epidemie – ein Erfahrungsbericht

Stockholm im Jahr 2020 – damit verknüpft man fast automatisch Corona. Zum einen weil die schwedische Hauptstadt wie nur wenige andere Städte von Corona heimgesucht wurde, zum anderen weil über nur wenige Städte während der Corona-Epidemie so intensiv berichtet wurde. Und nun eine Reise nach Stockholm im Jahr 2020. Ist das überhaupt vertretbar? Kann man das machen? Wir haben es gewagt – und überlebt.

Die Entscheidung ist uns nicht leicht gefallen. Wirklich nach Stockholm? Immerhin starben allein in der Region Stockholm über 2000 Menschen mit oder an Covid19. Das bedeutet, dass auf 1000 Einwohner ein Corona-Toter kommt. Eine heftige Zahl. Wenn es eine rein touristische Reise gewesen wäre, hätten wir uns wohl ein anderes Ziel ausgesucht. Dann hätten wir uns wahrscheinlich irgendwo in die Einsamkeit begeben, wo wir wenig Kontakt mit anderen gehabt hätten. Aber unsere Reise war eine Recherche-Reise; wir mussten nach Stockholm, um ein Buchprojekt voranzutreiben. Zu recherchieren bedeutet, dass wir viele unterschiedliche Orte aufsuchen und viele unterschiedliche Menschen treffen würden. Das ist in Corona-Zeiten sowieso schon schwierig. Und dann auch noch in Stockholm?

Stockholm und Schweden standen vor allem im April und Mai im Mittelpunkt des Interesses, als sowohl die Zahl der Infizierten als auch die der Toten rasant anstieg. Schweden ging einen anderen Weg als fast alle anderen Staaten der Welt. Die Schulen blieben offen, eine Mundschutzpflicht gibt es nicht. Nur die Alten und Kranken wurden rigoros abgeschottet – zumindest war das der Plan, der nicht aufging. In den Altenheimen wütete das Virus besonders heftig und forderte viele Tote.

Ein Land polarisiert.

Seitdem polarisiert Schweden. Die einen begegnen dem schwedischen Weg mit großem Argwohn und Ablehnung, die anderen feiern Schweden als Ort der Freiheit. Schon komisch, dass ausgerechnet Schweden derart polarisiert – gerade das Land, in dem der Kompromiss so groß geschrieben wird, in dem man sich nicht gerne streitet, in dem Land, das eben gerade nicht polarisieren möchte.

Ein zweites Mal rückte Schweden in den Fokus, als innerhalb der EU die Reisewarnungen aufgehoben wurden. Nur Schweden war in vielen Ländern ausgenommen, so auch in Deutschland. Denn Schweden war aufgrund massiv ausgeweiteter Tests das einzige Land, in dem die 7-Tage-Inzidenz über dem Grenzwert von 50 neuen Infektionen pro 100.000 Einwohner lag. Das war im Juni. Unsere Reise war für August geplant. Und uns war klar, dass wir nicht reisen würden, wenn eine Reisewarnung besteht. Da sind wir ganz schwedisch: Gibt es eine deutliche Empfehlung oder Warnung, dann halten wir uns auch daran.

Mitte Juli dann die Nachricht: Aufgrund konstant sinkender Zahlen wurde die Reisewarnung für Schweden aufgehoben. Es konnte also losgehen – trotz gewisser Bedenken, aber dennoch mit großer Vorfreude. Was würden wir in Stockholm erwarten? Wie ist das öffentliche Leben dort geregelt? Würden wir uns unwohl fühlen? Oder frei?

Glaubenssätze

Das erste aufschlussreiche Gespräch über Corona führen wir auf der Fähre von Kiel nach Göteborg. Im Restaurant erklärt uns Frederik, ein Mitarbeiter, freundlich: „Ihr müsst keine Maske aufsetzen. Wir in Schweden glauben, dass es genügt, Abstand zu halten. Wir glauben, dass man den Abstand vergisst, wenn man eine Maske trägt.“ Aufschlussreich. Gleich zweimal fällt das Wort „glauben“. Es sind Glaubenssätze, die so oft die Corona-Diskussionen bestimmen. Wirkliche Gewissheiten gibt es nicht – auch in Schweden nicht. Der zweite Glaubenssatz wird auf unserer Reise noch auf eine schwere Probe gestellt werden. Es kann durchaus sein, dass der Mitarbeiter Recht hat. Vielleicht fühlen sich manche Menschen mit Maske sicher und vergessen dann den Abstand. Aber halten die Menschen den Abstand zueinander konsequent ein, wenn sie keine Maske tragen? Als sich ein paar Mitreisende im engen Gang, in dem sich die Kabinen befinden, an uns vorbeiquetschen, anstatt zu warten, bis wir in der Kabine verschwunden sind, bekomme ich da so meine Zweifel.

In Göteborg treffen wir Felix, einen gebürtigen Österreicher, der schon seit vielen Jahren in Göteborg lebt. Wie er den Umgang der Schweden mit Corona erlebe, fragen wir ihn. Mit typisch österreichischer Ironie stellt Felix eine Gegenfrage: „Corona? Was ist Corona?“ Viele verhielten sich, als habe es nie Corona gegeben, erklärt er dann gänzlich ohne Ironie.

Zur Einstimmung haben wir nun also Frederiks und Felix‘ Meinungen. Wir sind gespannt, was uns in Stockholm erwartet.

Wie geht Stockholm mit Corona um?

Auf der Fahrt in die Hauptstadt machen wir irgendwo in einem kleinen Dorf am Göta-Kanal Pause, um einen Kaffee zu trinken. Abstand ist hier kein Problem. Das Wetter ist herrlich, auf der Wiese vor dem Café sind die Tische und Stühle locker verteilt. Vor dem Café steht ein Schild: Nur ein Kunde darf eintreten und drinnen bestellen, ganz ohne Maske. Dadurch entsteht eine kleine Schlange vor dem Eingang, aber alle halten sich daran. So fühlt es sich gut und sicher an. Aber wir sind eben auch auf dem Land.

Hier ist Abstand halten kein Problem – ein Café auf dem Land

In Stockholm stellen wir dann fest, dass die Stadt lang nicht so voll ist wie sonst im August. Eigentlich schieben und drängen sich zu dieser Zeit abertausende Touristen durch die Altstadt. Man hört hier mehr Englisch, Deutsch und Holländisch als Schwedisch. Und jetzt? Nur wenige Touristen tummeln sich in Stockholm. Die meisten machen wohl doch lieber Urlaub zuhause. Wie die Schweden auch. „Hemester“ nennt sich dies dann – ein Neologismus zusammengesetzt aus „hem“ (das Zuhause) und „semester“ (der Urlaub). Auch wenn die internationalen Touristen fehlen, ist die Stadt nicht wie leergefegt. Es scheint, als genießen die Stockholmer ihre Stadt in diesem Sommer intensiver als sonst. Und dennoch: Es sind weniger Menschen unterwegs. Auch auf dem Campingplatz und in den Hotels, in denen wir unterkommen, ist die Anzahl der Gäste überschaubar. So wird aus dem trubeligen, in der Hauptsaison immer vollen und leider auch nicht immer sauberen Campingplatz in Bredäng ein Platz, auf dem es betulich zugeht und der angenehm sauber ist. Wenig Menschen machen wenig Dreck.

Corona hält die Touristen aus Stockholm fern. Leere Gasse.
Wo sind die Menschen in Gamla Stan?
Die Stockholmer genießen ihre Stadt, hier auf dem Skinnarviksberg

Abstand wahren – nicht immer funktioniert’s

Während der zweieinhalb Wochen, die wir in Stockholm sind, treffen wir auf erstaunlich viele Menschen, die entweder selbst an Covid19 erkrankt waren oder einen nahen Angehörigen haben, der vom Virus betroffen war. Ungewohnt, denn zuhause war das Virus immer weit weg. Dort kennen wir nur eine einzige Person, die erkrankte. In Stockholm sieht das anders aus. Eine Angestellte im Museum des Schloss Drottningholm erzählt uns von ihrer Krankheit („Nichts, was ich empfehlen kann.“). Sie wahrt den Abstand dabei sehr bewusst. Katri, die wir ein paar Tage später treffen, berichtet von ihrem kranken Sohn, den es schlimm erwischte, der die Krankheit aber durchstand.

„Abstand halten!“, sagen die Betroffenen und man spürt, dass sie es ernst meinen. Dass es für sie nicht nur eine dahingesagte Floskel ist. Zum Einhalten des Abstands und zum Desinfizieren der Hände wird man allerorten aufgefordert. In den Parks prangt an so gut wie jedem Baum ein kaum zu übersehender Hinweis. Auf dem Gehweg, in den Geschäften, in den Cafés – überall sind entsprechende Mahnungen und Erinnerungen angebracht.

Das Problem: Vielen scheint es ziemlich egal zu sein. Für viele ist der Hinweis eben doch nur eine Floskel. Besonders sichtbar wird dies in vielen Cafés. Auf Södermalm machen wir eine Fika-Tour. Die Hinweisschilder sind omnipräsent. Die Kunden stehen brav an der Theke Schlange und halten dabei vielleicht sogar den Abstand ein. Oft sind die Schlangen aber so lange, dass sie durch die Türe hindurch nach draußen reichen. Die Bedienungen und andere Kunden, die von drinnen nach draußen oder in die umgekehrte Richtung wollen, zwängen sich dicht an den Wartenden vorbei. Abstand halten? War da was?

Volles Café in Stockholm auch während Corona.
In den Cafés ist es meist schwer, den Abstand einzuhalten.

Das tatsächliche Verhalten weicht vom erwünschten oft weit ab. Wohl fühlen wir uns dabei nicht.

Corona erhitzt manche Gemüter – selbst in Schweden

Auch in der U-Bahn haben wir oft ein ungutes Gefühl. Zwar wird auch hier beständig dazu ermahnt, die öffentlichen Verkehrsmittel nur zu nutzen, wenn es unbedingt nötig ist, und vielleicht ist sogar ein bisschen weniger los als normal, voll sind die U-Bahnen dennoch. An den Haltestellen und in den U-Bahnen machen wir sehr unterschiedliche Beobachtungen: Manche (allerdings nur sehr wenige) tragen Maske; wenn in einer Vierersitzgruppe bereits jemand sitzt, setzt sich im Normalfall nur eine weitere Person schräg gegenüber hinzu; man versucht, Abstand zu halten; meist gelingt es aber nicht, da es einfach zu eng und zu voll ist; manche wiederum verhalten sich so, als gebe es Corona nicht. Die ganze Bandbreite an Vernunft und Unvernunft kommt hier zusammen. Ein Glück, wenn man sich im Wagen mit den Vernünftigen befindet.

Einmal haben wir das Glück nicht.

Ein Mann sitzt bereits in einer Vierersitzgruppe. An einer Haltestelle steigen drei weitere Männer hinzu. Die ersten beiden setzen sich dem anderen Mann gegenüber, der dritte will sich neben ihn setzen. Doch da steht die Tasche des Mannes und er ist nicht gewillt, sie wegzuräumen. Er erklärt, dass es ihm nicht recht sei, wenn sich der andere in Corona-Zeiten neben ihn setze. Wegen Abstand und so. Der andere will nicht verstehen. Was folgt, ist eine wüste Schimpftirade. Eine Schlägerei liegt in der Luft. Corona lässt auch hier die Gemüter erhitzen. Im Lauf des Streits zeigt der Mann, der gerne einen Sitzplatz hätte, auf mich – ich trage Mundschutz – und schreit: „Zieh dir doch einen Mundschutz an wie der Mann da, wenn du dich unsicher fühlst! So kannst du dich schützen und ich kann mich hinsetzen.“ (Die Schimpfwörter, die folgen, spare ich hier aus, da sie wenig Inhaltliches beisteuern…) Dass die Maske vor allem andere vor mir schützt, wenn ich erkrankt sein sollte, ist offensichtlich noch nicht zu diesem Wüterich vorgedrungen.

So leer wie hier ist es selten in der Stockholmer U-Bahn.

Beim U-Bahn-Fahren, in manchen Cafés und hin und wieder beim Einkaufen, vor allem wenn die Läden klein und beengt sind, fühlen wir uns nicht wirklich wohl.

Einschränkungen in Schweden

Auf der anderen Seite ist es aber auch nicht so, dass in Schweden das Leben weiterläuft wie bisher (und wie manche auf den unseligen Corona-Demonstrationen wohl annehmen). Es gibt viele Maßnahmen zum Schutz vor Corona, auch viele Ein- und Beschränkungen. Einige Museen haben komplett geschlossen, ebenso viele Theater, manche Restaurants und sogar kleinere Butiken. Großveranstaltungen finden nicht statt, Führungen wurden eingestellt. Die Fahrgeschäfte des Vergnügungsparks Gröna Lund stehen schon seit langem still. Oft werden Teilnehmerzahlen begrenzt. So nehmen die beiden großen Unternehmen Strömma und Vaxholmsbolaget, die die Menschen mit ihren Schiffen hinaus auf die Schären bringen, nur eine bestimmte Anzahl an Passagieren mit. Dem erwarteten Chaos an einem hochsommerlich-warmen Wochenendtag wird mit Zusatzbooten begegnet.

Da werden die Plätze schnell knapp: begrenzte Passagierzahlen auf den Schärenbooten

Viele Organisationen und Einzelpersonen bemühen sich sehr, die Rahmenbedingungen so zu gestalten, dass der Abstand gewahrt werden kann. Dann klappt es meistens auch. Dann fühlt man sich sicher – und ohne Maske sogar ein wenig freier. Aber die Bedingungen müssen eben gegeben sein. Dort, wo es nicht so ist, drängen sich die Leute schnell dicht an dicht. Frederik, den Mitarbeiter auf der Fähre, müssen wir daher in seinem Glauben enttäuschen: Vielleicht vergessen die Menschen den Abstand, wenn sie eine Maske tragen. Viele vergessen ihn aber auch, wenn sie keine Maske auf haben. Damit die eineinhalb Meter zueinander eingehalten werden, müssen andere Dinge gegeben sein.

So bleibt am Schluss ein zwiespältiges Gefühl zurück: Wir haben uns vielerorts wohl und sicher gefühlt – auch komplett ohne Maske. Es gab aber auch andere Momente, wo ein Unbehagen über uns kam, wo wir einen Ort schnell verlassen wollten, weil es sich alles andere als gut angefühlt hat. Ein Stück weit kann man diesen Momenten sicherlich aus dem Weg gehen, indem man beispielsweise aufs U-Bahn-Fahren verzichtet. Ganz verschwinden werden sie aber nicht.

Das wissen auch die Stockholmer. Ob uns unsere Freunde und unsere Familie überhaupt wiedersehen wollen, wenn wir aus Stockholm zurückkommen, fragt uns Fredrik, ein Guide auf einer Tour. Das wollen sie, versichern wir ihm. Aber testen lassen wir uns trotzdem nach unserer Rückkehr – sicher ist sicher.

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