Die Schweden trinken immer weniger Alkohol. Was für eine Nachricht! Ein Klischee wird zerschmettert. Hauen sich unsere nordischen Nachbarn nicht bei jeder Gelegenheit, die sich ihnen bietet, einen hinter die Binde? Und besaufen sie sich nicht zur Besinnungslosigkeit, wenn sie erst einmal mit dem Trinken angefangen haben, frei nach dem Motto: Es muss sich schließlich lohnen?
Und nun vermeldet die schwedische Alkohol- und Drogenbehörde den stärksten Rückgang beim Alkoholkonsum seit Jahren. Satte 2,7 Prozent tranken die Schweden 2023 weniger als im Jahr zuvor. 8,6 Liter reiner Alkohol sind es noch pro Person über 15 Jahren. Zum Vergleich: In Deutschland liegt der Schnitt bei rund 10 Litern pro Person.
Seit Jahren nimmt der Alkoholkonsum ab. Sind die Schweden also gar nicht das Land der Weinleichen, der Bierimporteure aus Deutschland, deren Wägen sich unter dem Gewicht der hunderten Bierdosen im Kofferraum nur so biegen, oder der Selbstbrenner, deren Schnaps aus Kanistern gesoffen wird und blind macht?
Schweden und Alkohol – da gibt es viele Geschichten
Unvergessen der Moment einer studentischen Feier in Schweden. Sie hatte gerade begonnen, kotzte schon der erste. Er hat dann den Rest der Feier im Delirium am Tanzbodenrand verbracht, während ihm ein Rinnsal Speichel aus dem Mund tropfte.
Unvergessen aber auch die völlige Irritation eines schwedischen Freundes, als er in Deutschland zu Besuch war und ich ihn fragte, ob wir ein Bier mit auf den Weg zu einer Party nehmen wollen. Wie? Alkohol auf öffentlichen Plätzen, gar noch im Bus trinken? Undenkbar.
Unvergessen die schwedische Hochzeit, bei der in regelmäßigen Abständen gemeinsam das Schnapsglas erhoben, gesungen und getrunken wurde. Und mit regelmäßig ist hier im Minutentakt gemeint.
Kurzum: Das Verhältnis der Schweden zum Alkohol ist merkwürdig. Ambivalent. Nicht nur heute, so war’s auch schon vor über hundert Jahren.
Kampf dem „sup“
Dass die Schweden vor allem Schnapstrinker sind, stimmt heute nicht mehr. Aber mit dem Schnaps fing im Grunde alles an – sowohl das weitverbreitete supande, also das Saufen, das Selbstbrennen auf dem Hof als auch die staatliche Alkoholpolitik, die mehrere – durchaus diverse – Ziele mit ihrer Politik verfolgte. Klar, man wollte das eigene Volk vor allzu großem Schaden bewahren. Wenn sich alle ständig abschießen, dann leidet das Leistungsvermögen. Das kann niemand wollen. Aber auch die Moral verlottert, das sagte zumindest die Kirche, die in Schweden seit der Reformation eine protestantische Staatskirche war – und damit großen Einfluss auf die Politik hatte.
Eine restriktive Alkoholpolitik verfolgte man aber auch, weil man fürchtete, dass die Bauern zu viel Getreide für die Herstellung von Schnaps nutzten. In Zeiten schlechter Ernten drohte dann eine Lebensmittelknappheit, während sich die Leute mehrere hinter die Binde kippten. Das durfte natürlich nicht sein.
Auf der anderen Seite verdiente der Staat nicht schlecht durch all das Gesaufe. Schließlich musste jeder, selbst der Eigenbrenner auf dem Hinterhof, das sog. husbehovsbränning, Steuern zahlen, und das nicht zu knapp. Hohe Steuern auf den Schnaps bei gleichzeitig hohem Konsum versprachen also einen reichlichen Geldsegen für die Staatskasse.
Zwischen Alkoholverbot und hohen Steuern auf Alkohol
Man profitierte daher durchaus von seinem versoffenen Volke, aber der Schaden war dann doch größer als der Nutzen. Also verbot man immer mal wieder die Einfuhr, die Herstellung oder den Ausschank. 1718 wurde zum ersten Mal das Brennen für den Eigenbedarf verboten. Weniger getrunken wurde dadurch aber nicht, weshalb man es 1731 wieder aufhob. Dafür erhöhte man die Abgaben auf das Selberbrennen.
Seit dieser Zeit lodert der Kampf zwischen denen, die im Alkohol ein Gift, ein großes Unheil sehen, und jenen, die durchaus einen Gewinn in einem ordentlichen sup erkennen können. Da wetterten Pfarrer, wie der von Umeå, Nils Grabb, 1723, dass es keinen Gottesdienst mehr gebe, wo die Leute nicht betrunken wären. Was tun? Für Pfarrer Grabb war die Sache klar: Ein Totalverbot in ganz Schweden musste her.
Vor allem bei den Bauern ertönte da lautes Klagegeheul. „Brännvinet vore för dem det endaste medikament”, der Schnaps sei das einzige Medikament, das sie hätten, klagten sie vor dem Reichstag.
Rassismus in der Alkoholpolitik
Die Reichstagsabgeordneten sahen in der Mehrheit ein, dass ein Totalverbot nichts bringen würde – außer mehr Schwarzbrennerei und weniger Steuereinnahmen. Nur bei den Sami im Norden sah man das anders, denn die Urbevölkerung sei angeblich ganz besonders anfällig für Alkohol. 1740 wurde daher ein komplettes Schnapsverbot in Lappmarken eingeführt. Gebracht hat’s wenig, denn auch die Samen können Schwarzhandel und Schwarzbrennerei.
1756 herrschte mal wieder Getreideknappheit, weshalb das Selbstbrennen erneut verboten wurde. Die Geräte zum Brennen mussten abgegeben werden, die großen, fest eingemauerten unbrauchbar gemacht werden. Im gesamten Schweden (damals noch inklusive Finnland) wurden sage und schreibe 169.132 Gerätschaften abgegeben oder gemeldet. Schweden hatte da gerade einmal drei Millionen Einwohner. Auf eine Haus- und Hofbrennerei kamen also nicht einmal 20 Einwohner. Durchaus ein Grund für die Obrigkeit und die Kirche, eine gewisse Besorgnis an den Tag zu legen. Weil aber auch das nichts half, hob man die Strafen fürs Schwarzbrennen an. 10 Silbertaler, wenn man das erste Mal erwischt wurde, 50 beim zweiten Mal, der Verlust der Bürgerrechte beim dritten Mal und bis zu drei Jahren Kerkerhaft beim vierten Mal. Man machte also ernst von staatlicher Seite.
Allein, es half nichts. Der Reichstag hob 1760 das Verbot wieder auf. Und so ging es weiter durch die schwedische Geschichte. Auf Verbote und Strafen folgte die Aufhebung des Verbots, ehe ein neues Verbot folgte. Man kann auch sagen: Die Schweden wussten nicht so recht, wie sie mit dem Alkoholkonsum der Bevölkerung umgehen sollten.
Staatliche Kontrolle über den Alkohol
Eine neue Idee musste her: Wenn man den privaten Hofbrennereien schon nicht das Handwerk legen konnte, dann musste der Staat eben selbst den Schnaps herstellen. So könnte man das allgemeine Saufen zumindest ein wenig kontrollieren. Ende des 18. Jahrhunderts gab es 61 staatliche Brennereien, die sogenannten kronobrännerier. Doch die Schweden brannten weiterhin fleißig ihren Schnaps selbst, der Konsum schoss weiter in die Höhe.
Warnende Stimmen gab es, sie wurden bloß von der breiten Bevölkerung ignoriert. Carl von Linné schrieb etwa 1748, dass storsupare, also die heftigen Säufer schnell den direkten Weg ins Grab fänden, aber dass auch diejenigen, die småtta på glaset, die sich also nicht zur Besinnungslosigkeit besaufen, aber doch regelmäßig trinken, bald süchtig werden und dann – so Linné – beständig den „morgonsupen, förmiddagssupen, appetitssupen, aftonsupen och kvällssupen“ (Schnaps am Morgen, am Vormittag, zum Mittagessen, am Nachmittag und am Abend) bräuchten.
Der preußische König Friedrich der Große wunderte sich, dass die Schweden durch die Sauferei über Jahrhunderte hinweg an ihrem eigenen Untergang arbeiteten, dies ihnen aber merkwürdigerweise nicht glückte.
Ein versoffenes Volk – und eine Gegenbewegung
Die Schweden hatten sich also auch international einen Ruf als trinkfreudiges Volk erarbeitet. Wobei trinkfreudig zu positiv ist. Versoffen trifft es schon besser. 1829 erreichte das Schnapstrinken seinen Höhepunkt. 46 Liter schüttete im Schnitt jeder Schwede pro Jahr in sich hinein. Das sind 6 kleine 2cl-Schnapsgläser pro Tag. Die Zahl von 46 Litern stammt aber von der alkoholfeindlichen Nykterhetssällskapet. Sie darf also als zu hoch angesehen werden. Wissenschaftliche Forschungen gehen aber dennoch von ca. 20 Litern 50-prozentigen Alkohols aus, was nach wie vor eine ordentliche Menge ist.
Irgendwann reichte es der Kirche. Wein beim Abendmahl war in Ordnung, aber doch nicht ständig dieser Schnaps vor und während des sonntäglichen Gottesdienstes und auch sonst während der Woche. Betrunkene hatten keine Moral und keine Achtung vor Obrigkeit und Hochwürden.
Carl Emanuel Bexell, Pfarrer und Propst im småländischen Rydaholm, machte den Anfang. Ende der 1820er Jahre gründete er die erste Abstinenzbewegung, im Schwedischen nykterhetsförening, die sich dem Kampf gegen den grassierenden Alkoholismus verschrieb. Brännvinet, also der Schnaps, sollte in Schweden ausgerottet werden. Das Saufen sollte nicht verringert, sondern gänzlich beseitigt werden.
Die Nykterhetsrörelse bekommt Zulauf
Schweden war zu dieser Zeit ein armes Land. Sollte da das vorhandene Getreide nicht in die Herstellung von Nahrung statt von Schnaps fließen? So die zentrale Argumentation der Abstinenzler. Außerdem befürchtete man, dass sich Armut zementierte, wenn Arbeiter ihren halben Monatslohn in Schnaps investierten. Und schließlich kamen wissenschaftliche Erkenntnisse hinzu, die einen Zusammenhang zwischen Alkoholkonsum und Verbrechen herstellten.
Bexells Initiative hatte also gute Argumente. Und sie fiel offensichtlich auf fruchtbaren Boden. Die Rydaholm-Gemeinde, der der Pfarrer vorstand, hatte gerade einmal 3800 Einwohner. Die Abstinenzbewegung von Rydaholm zählte schon bald an die 2000 Mitglieder. Und Bexell war nicht der einzige, der dem Alkohol den Kampf ansagte.
Überall im Land entstanden weitere nykterhetsföreningar. Besonders der sogenannte Bibelgürtel entwickelte sich zur Hochburg der Alkoholgegner. Im Bibelgürtel, das ist die Region um Jönköping sowie weite Teile Smålands sind Freikirchen, zum Beispiel Pfingstkirchen, stark vertreten. Hier fanden auch die Abstinenzler viel Anklang, wohingegen sie in den großen Städten eher schwach waren. Einen besonderen Namen machte sich dabei Peter Wieselgren, zunächst Pfarrer in Västerstad in Skåne, später Dompropst in Göteborg. Er hinterließ einen solchen Eindruck, dass in Göteborg ein Platz nach ihm benannt wurde, andernorts Schulen und mehrere Straßen. Die Abstinenz schrieb er sich auf die Fahnen, tourte durchs ganze Land und predigte gegen den Alkohol – vor allem gegen den in Massen und aus kleinen Schnapsgläsern. Er war auch zentrale Figur der Svenska Nykterhetssällskapet, die 1837 gegründet wurde und zehn Jahre später bereits fast 100.000 Mitglieder hatte.
Anti-Alkohol-Aktivisten
Dass in Schweden offensichtlich zu viel getrunken wurde und dass man dagegen etwas tun müsse, das scheint also die Meinung vieler Menschen gewesen zu sein. Und sie taten tatsächlich etwas: Neben Predigten, die sie schrieben, setzten Aktivisten auch Brennereien in Brand. Und sie schrieben massenhaft Petitionen an den Reichstag und an den König. So viele, dass diese sich ehrlich beeindruckt sahen und sich der Sache annahmen.