Dass Putin eine … nun ja … alternative Sicht auf die Geschichte hat, ist schon seit Längerem bekannt. Geschichte dient ihm dazu, seine Ziele zu legitimieren. Zur Not muss sie eben verdreht, verbogen, verunstaltet werden, bis sie endlich passt. Nächstes Opfer dieser Geschichtsverdrehungen? Astrid Lindgren, die plötzlich eine Nazi-Sympathisantin ist.
Damit der Ukraine das Existenzrecht abgesprochen werden kann, wird mehr oder weniger die gesamte ukrainische Geschichte vor der russischen Revolution ignoriert. Dann muss noch ein Grund her, weshalb die ukrainische Regierung gestürzt werden muss. Ganz einfach: Das sind alles Nazis. Das ist zwar großer Quatsch, eine billige Lüge, aber egal, Hauptsache, man hat irgendeine Legitimation. Und der Kampf gegen Nazis funktioniert doch immer irgendwie.
Diese Propaganda ist ziemlich platt; jeder nur einigermaßen Geschichtsinteressierte erkennt sie schnell als das, was sie ist: eine Lüge. Aber offensichtlich scheinen die Propagandastrategen des Kreml an deren Erfolg zu glauben.
Schweden als Nazi-Freunde?
Nun tauchten Plakate an Bushaltestellen in der Nähe der schwedischen Botschaft in Moskau auf, die – so berichtet es die schwedische Zeitung Dagens Nyheter Anfang Mai 2022 – IKEA-Gründer Ingvar Kamprad, Regisseur Ingmar Bergman, den früheren schwedischen König Gustav V. zeigen – und Astrid Lindgren. Darüber steht der Text: „Wir sind gegen den Nazismus, aber sie nicht.“ Damit auch wirklich jeder versteht, wer mit „wir“ und „sie“ gemeint ist, erscheint das „wir“ in den russischen, das „sie“ in den schwedischen Farben.
Astrid Lindgren war also nicht gegen die Nazis? Gar eine Nazi-Freundin? Das ist in etwa so absurd, wie wenn der russische Außenminister Lawrow allen Ernstes behauptet, die größten Antisemiten seien Juden.
Ja, Ingvar Kamprads Einstellung dem Nationalsozialismus gegenüber war problematisch, keine Frage. Auch die Rolle des schwedischen Königs Gustav V während des Zweiten Weltkriegs, als sich Schweden neutral erklärte und – um diese Neutralität zu erhalten – immer wieder mit Nazi-Deutschland zusammenarbeitete, kann diskutiert werden. Ingmar Bergman zeigte sich in den 1930er Jahren durchaus deutschlandfreundlich. Das ist richtig. Von der russischen Propaganda übersehen wurde aber offensichtlich, dass Bergman spätestens mit dem deutschen Überfall auf Dänemark und Norwegen eine deutliche antinazistische Haltung einnahm und auch gegen Nazi-Deutschland gerichtete Stücke inszenierte.
Eine kaum verborgene Drohung
Hier werden also Einzelpersönlichkeiten herausgegriffen – oder nicht einmal die gesamte Persönlichkeit, sondern nur ein Teil von ihr –, die allesamt bereits verstorben sind, um … Ja, um was? Um zu zeigen, dass die Schweden böse Nazis sind? Man schließt also von 4 auf 10 Millionen? Stringenz und Logik scheinen keine Freunde dieser Propaganda zu sein …
Dahinter steckt aber kaum verborgen die Drohung: Wagt es nicht, euch der NATO anzuschließen! Ihr Nazis! Denn Russland kämpft gegen alle Nazis.
Heilig ist den Propagandisten dabei nichts mehr. Auch nicht die in Russland außerordentlich beliebte Astrid Lindgren. „Karlsson vom Dach“ hat dort einen ähnlichen Status wie andernorts „Harry Potter“. Und sie ist nun also auch eine Nazi-Freundin?
Belegt wird dies mit einem Zitat – mit einem! Mehr war offensichtlich nicht zu finden. „Wenn es nun so komme, dann rufe ich lieber den Rest meines Lebens „Heil Hitler“, als dass ich den Russen hier in Schweden habe. Ich kann mir nichts Widerlicheres vorstellen.“ Ein Zitat aus Lindgrens Kriegstagebuch vom Juni 1940.
Wer gegen Stalin war, war noch lange nicht für Hitler.
Nun ist es so, dass einem Dinge entfallen können, wenn man sie krampfhaft ausklammert. Zum Beispiel die Tatsache, dass die Sowjetunion unter Stalin in den ersten Kriegsjahren keineswegs der große Widerpart gegen Nazi-Deutschland war. Im Gegenteil. Der Pakt, den Stalin mit Hitler schloss, gab Hitler freie Hand, woraufhin er den Krieg eröffnete. Polen wurde überfallen und rücksichtslos zwischen den beiden Mächten aufgeteilt. Könnte es dem kleinen und mehr oder weniger wehrlosen Schweden ähnlich ergehen? Gut möglich. Diese Sorge bestand zumindest. Vor diesem Hintergrund ist das Zitat zu verstehen. Es ist ein Satz, aus dem die Angst spricht – und ganz gewiss keine Sympathie für Nazi-Deutschland.
Aber das vergisst, wer Geschichte ständig verdreht und manipuliert, wer sie nur so sieht, wie er sie sehen will und dadurch blind vor der Geschichte wird.
Wer ernsthaft sehen will, der liest Astrid Lindgrens Tagebücher* anders. Denn der liest Sätze wie: „Der Nationalsozialismus und der Bolschewismus – das sind wie zwei schreckliche Echsen im Kampf gegeneinander.“ Er wird Sätze entdecken, die Lindgrens Schrecken vor dem Krieg zeigen, den Schrecken vor den Barbareien der Nazis in Griechenland, in Norwegen, in Polen, „wo die armen Juden vor Hunger und Schmutz umkommen.“
Sie verabscheute Hitler. Und sie hasste Stalin. Ein Zitat, in dem sie ihre Abscheu gegenüber Stalin ausdrückt, macht sie noch lange nicht zur Nazi-Freundin.
Astrid Lindgren ist und bleibt eine Nazi-Gegnerin. Und die russische Propaganda… nun ja… Nonsens.
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