Hat Schweden ein Problem mit der Clan-Kriminalität? Mehrere Verbrechen in den letzten Jahren lassen darauf schließen. Antworten darauf gibt das Buch „Familjen“ der Journalistin Johanna Bäckström Lerneby – ein Reportage, aber spannend wie ein Krimi.
Am 1. Juli 2021 dominierte eine Schlagzeile die schwedischen Medien. Nicht Corona, nicht der weitere Öffnungsschritt. Sondern ein Polizist, der während seines Dienstes in Biskopsgården in Göteborg auf offener Straße erschossen wurde. Schon wieder ein Ausbruch tödlicher Gewalt – etwas, was in den Großstädten Stockholm, Göteborg und Malmö zwar nicht alltäglich ist, aber doch immer wieder vorkommt.
Banden bekriegen sich in den Vorstädten.
Banden bekriegen sich in den Vororten der schwedischen Großstädte wortwörtlich bis aufs Blut. Die meisten Toten, die es dabei zu beklagen gibt, stammen aus dem kriminellen Milieu. Aber nicht alle. Immer wieder geraten Unschuldige in die Schusslinie, wie zum Beispiel im vergangenen Jahr, als im Stockholmer Vorort Botkyrka ein zwölfjähriges Mädchen erschossen wurde, oder vor ein paar Jahren, als in Göteborg ein Kind ums Leben kam, nachdem ein Unbekannter eine Handgranate durchs Fenster geschleudert hatte. Sie galt eigentlich dem Onkel des Kindes.
In Relation zur Einwohnerzahl werden in Schweden innerhalb Europas am meisten Menschen durch Schusswaffen ermordet. Ein trauriger Rekord. 48 Menschen ließen so ihr Leben, die meisten davon aus dem kriminellen Milieu, wie der schwedische Rat für Verbrechensprävention Brå in der Statistik für das Jahr 2020 berichtet. 33 dieser Morde ereigneten sich in den Großstadtregionen.
Was hat sich dort zusammengebraut? Und warum?
Die Reportage „Familjen“ der Journalistin Johanna Bäckström Lerneby, die sich in Schweden zum Bestseller entwickelt hat, liefert interessante Aufschlüsse und liest sich zugleich spannend wie ein Krimi. Das Problem: Hier ist nichts Fiktion, sondern alles die nackte, raue Realität.
Die Journalistin begleitete über ein Jahrzehnt die Familie Al Asim (der Name wurde geändert), sie führte Gespräche mit dem Familienoberhaupt und anderen Mitgliedern, war bei Gerichtsverhandlungen dabei, im Krankenhaus nach einer Messerstecherei, unterhielt sich mit Ermittlern, wälzte Akten. Die Reportage, dick wie ein Roman, ist extrem aufwändig und gut recherchiert. Genau das macht sie so interessant und lesenswert.
„Familjen“ – eine Reportage, aber spannend wie ein Krimi
Das Buch erschien bereits 2020 im Verlag Mondial, in einer aktualisierten Fassung erneut im Frühjahr 2021. Neue Ereignisse rund um den Familienclan machten die Aktualisierung notwendig.
Die Familie Al Asim kontrolliert seit Jahren den Stadtteil Angered im Norden Göteborgs – ähnlich wie andere Familien andere Vororte in Göteborg, Stockholm oder Malmö kontrollieren.
„Manche sagen Mafia, selbst nennen sie sich Problemlöser.“ Dieses Zitat aus dem Buch zeigt eines der Grundprobleme auf. Wie dieser Clan in Angered agiert, das hat eindeutig mafiöse Züge. Im Gespräch mit Familienoberhaupt Al Asim, einem frommen Imam, wird aber deutlich, dass er sich und seine Familie gänzlich anders sieht. Er sagt, die Familie löse Probleme ganz niedrigschwellig, sodass die Polizei gar nicht mehr eingreifen müsse. Sie vollbringe damit einen Dienst an der Gesellschaft.
Zwei diametral entgegengesetzte Ansichten werden deutlich, wie Konflikte zu lösen seien. Und vor allem durch wen. Im Verständnis des Clans ist die Familie die problemlösende Instanz. Kommt es zu Konflikten beispielweise zwischen zwei jungen Männern aus unterschiedlichen Familien, zu Beleidigungen und vielleicht auch zu einer Schlägerei, dann könnten die Familien vermitteln, sich versöhnen und damit die Feindschaft begraben.
Wer löst Konflikte? Der Staat oder die Familie?
Der schwedische Rechtsstaat sieht dies – wie jeder andere Rechtsstaat auch – natürlich komplett anders: Das Gewaltmonopol liegt alleinig beim Staat. Kommt es zu Konflikten oder gar zu kriminellen Handlungen, dann muss die Polizei eingreifen, dann müssen Richter und Anwälte Dinge klären, nicht eine Familie.
Das Problem dabei: Was ist, wenn der Staat sein Gewaltmonopol nicht mehr ordentlich ausüben kann, wie es in einzelnen Vororten der schwedischen Großstädte teilweise geschieht? Dann füllen die Clans diese Lücke.
Für Familienoberhaupt Al Asim ist das überhaupt kein Problem. Die Journalistin Bäckström Lerneby schreibt, dass die Gespräche mit dem Imam zu den interessantesten ihres Lebens gehörten. Gerade deswegen, weil ihre Ansichten so fundamental unterschiedlich waren, sie aber genau dadurch beginnen konnte, die Clanwirklichkeit oder das, was wir häufig als Parallelgesellschaften bezeichnen, zu verstehen. Auch als Leser durchläuft man diesen Prozess: Man beginnt, die Logik hinter den Clans zu verstehen.
Verfehlte Stadtplanung in schwedischen Großstädten
Ihre Wurzeln haben die Al Asims wie viele andere Clans, die beispielsweise auch in Essen in Deutschland operieren, im türkisch-libanesischen Raum. Im libanesischen Bürgerkrieg Ende der 1970er Jahre floh Al Asim nach Schweden. Im Chaos während des Krieges machte er die Erfahrung, dass der Staat eben keine helfende und ordnende Instanz ist. Die Familie war die einzige Institution, auf die man sie verlassen konnte. Diese Vorstellung nahm er mit nach Schweden, nach Angered im Norden Göteborgs.
In Angered leben etwa 50.000 Menschen, die meisten von ihnen in Wohnblocks oder Hochhäusern. Nicht sonderlich schön anzusehen, ebensowenig wie das Zentrum. In den ersten Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg wurden in den schwedischen Großstädten mehrere solcher Viertel hochgezogen. Der Wohlfahrtsstaat wollte günstigen Wohnraum für alle schaffen. Bunt gemischte Viertel waren geplant.
Doch irgendwann zogen diejenigen, die es sich leisten konnten, weg. Zurück blieben die sozial Schwächeren, Migranten, Menschen ohne tolle Zukunftsaussichten. Für Jugendliche gibt es nicht allzu viel zu tun in diesen Stadtvierteln. Die Clans bieten eine mögliche Heimat, Struktur und auch Schutz.
„Familjen“ zeigt: Die Familie ist heilig.
Die Familie ist heilig. Wer dazugehört, genießt ihren Schutz. Wer sie beleidigt, hat ein Problem. So geschehen bei einem jungen Chilenen. Ein Spross der Al Asim-Familie geriet mit ihm in Streit, eine Lappalie, doch der Streit schaukelte sich hoch, am Schluss zog der Chilene ein Messer und verletzte den Enkel des Familienoberhaupts Al Asim schwer. Die Polizei versuchte alles, um den Chilenen schnell zu finden. Schneller als die Al Asims. Denn jedem war klar, was geschehen würde, wenn die Al Asims schneller sein würden.