Menschen und Gesellschaft Schwedisch

Seit 50 Jahren auf Du und Du

Die Du-Reform prägt Schweden und die schwedische Gesellschaft

„Kalla mig Bror!“ („Nennt mich Bror!“) – drei Worte, die nicht nur den schwedischen Sprachgebrauch veränderten, sondern auch die Mentalität der Schweden prägten. Mit diesem Satz begann 1967 der neue Generaldirektor des medicinalstyrelsen seine erste Ansprache an das Personal. Das war eine Revolution – und befeuerte das, was als die „Du-Reform“ in die Geschichte Schwedens eingegangen ist.

In Schweden duzt man sich. Der Schüler seine Lehrer, der Student seine Professoren, die Angestellten ihren Chef. Als ich als Deutschlehrer an einer schwedischen Schule gearbeitet habe, war das zunächst ungewohnt. Die Kinder sagten „Du“ und „Johannes“ zu mir. Erzähle ich deutschen Kollegen davon, reagieren sie irritiert. Und häufig kommt die Frage: „Schwächt das nicht die Autorität des Lehrers?“

Weniger Distanz durch das „Du“

Das Gegenteil ist der Fall: Das „Du“ führt dazu, dass Distanz abgebaut wird. Man spricht auf einer Ebene miteinander. Schließlich muss man Hierarchien, die zweifelsohne bestehen, nicht auch noch im alltäglichen Gespräch zementieren. Kann ich meinen Chef duzen, bedeutet das nicht den Verlust von Respekt (was manche Konservative im Schweden der 1970er- und 1980er-Jahren unkten), sondern sorgt dafür, dass ich auf einer anderen Ebene mit ihm sprechen kann. Man ist sich näher, das Gespräch wird vertrauensvoller, Distanzen verschwinden. Schweden ist davon geprägt – nicht nur in der Schule oder bei der Arbeit, sondern überall.

Und es gibt einen ganz praktischen Nebeneffekt: Im Deutschen hat man ja nur zu häufig das Problem, dass man nicht genau weiß, ob man nun jemanden duzen darf oder doch besser siezen sollte. Herauskommen dann irgendwelche umständlichen Wendungen, bei denen man versucht, möglichst jedes Personalpronomen zu vermeiden: „Gibt es schon Pläne fürs Wochenende?“, „Was wird heute Abend gekocht?“ … Wenn man einfach alle duzt, löst sich dieses Problem in Luft auf.

Das „Du“ als Revolution

In Schweden war dies lange Zeit nicht anders als in Deutschland. Das „Du“ wurde nur bei sehr engen Freunden und innerhalb der Familie benutzt. Und nicht einmal dort immer: In konservativen Kreisen sprachen die Kinder ihre Eltern mit „Papa / Vater“ und „Mama / Mutter“ und in der dritten Person Singular an. Titel oder Berufsbezeichnungen waren sehr beliebt. Es gab nicht nur den Herrn Doktor, sondern auch den Herrn Gärtner, den Herrn Redakteur und so fort. In der Schule arbeiteten „fröken“ und „magistern“. Man sprach die Leute mit „Herr“ und „Frau“ sowie mit „Ni“ („Sie“) an oder verwendete umständliche Passivkonstruktionen, wenn man sich sonst nicht mehr weiterzuhelfen wusste. Konversationen wurden umständlich, distanziert. Und diese Formen der strikten Hierarchien passten so gar nicht den schwedischen Wohlfahrtsstaat, der in den 1960er Jahren seine Blüte hatte.

Welch eine Befreiung also 1967, als Bror Rexed, der frisch ernannte Generaldirektor des Amts, das später zum Gesundheitsministerium wurde, bei seiner Antrittsrede ans Mikrofon trat und sagte: „Kalla mig Bror!“ Sprecht mich beim Vornamen an! Ich bin eben nicht der „Herr Generaldirektor Rexed“, der irgendwo in einem fernen Büro in der obersten Etage sitzt und in einer anderen Galaxie schwebt, sondern ich bin Bror, einer von euch. Nun war es nicht so, dass Bror Rexed mit diesen Worten komplettes Neuland betrat. In einigen Regionen, vor allem in Dalarna, war das Duzen durchaus schon verbreitet. Die Zeitung „Dagens Nyheter“ propagierte ebenfalls schon länger einen neuen Umgangston. Aber die Rede von Bror brachte die Lawine so richtig ins Rollen. Nun war die „Du-Reform“ nicht mehr zu stoppen – zum Leidwesen mancher Konservativen, die die Gesellschaft dadurch bedroht und den Sittenverfall kommen sahen.

Duze nie die Königsfamilie!

Seither duzt man sich also in Schweden – vom Regierungschef bis zum Bettler auf der Parkbank. Das ist gelebte Gleichheit. Aber es gibt natürlich eine Ausnahme: Die Königsfamilie darf auf keinen Fall geduzt werden. Hier sind die Schweden lieber ganz altmodisch. „Eure Majestät“, „Eure königliche Hoheit“ oder zumindest „König“, „Kronprinzessin“ usw. sind geboten.

Zeit für eine neue „Du-Reform“?

In den vergangenen Jahren kehrt das „Ni“, also das „Sie“, aber wieder zurück. So kann es durchaus passieren, dass man im Restaurant oder beim Einkaufen mit „Ni“ angesprochen wird. Manche sehen dies vielleicht als höflicher an. Andere wie die Kulturredakteurin Eva Ström vermuten die Ursachen für diesen Trend in Brüchen in der Gesellschaft. Es sei also an der Zeit, so Eva Ström, wieder gesellschaftlich zusammenzurücken, Zeit für eine neue „Du-Reform“.[1] Bror würde dies mit Sicherheit unterstützen.

[1] Eva Ström: Dags för en ny du-reform i Sverige, auf: http://www.kristianstadsbladet.se/kultur-noje/eva-strom-dags-for-en-ny-du-reform-i-sverige/

  1. Maxim Safonov

    Da meine Muttersprache Russisch ist, bin ich leider ein absoluter Gegner dieser Du-Reform. In der ehemaligen Sowjetunion sollte man gegenüber Fremden und flüchtig Bekannten distanziert sein und das finde ich mehr als gut. Ich will nicht, dass es ein Eindruck entsteht, man ist jeder Person nah, obwohl es nicht die Tatsache ist. Außerdem ist die postsowjetische Gesellschaft nach wie vor von Hierarchien geprägt. U. a. gilt es: wer keine Uni absolviert hat, gilt als Faulpelz. Daher wollen bei uns viele Eltern, dass ihre Kinder um jeden Preis studieren. Ich bin zwar gegen Hierarchien, aber Distanz muss es auf jeden Fall geben, solange man nicht eng miteinander ist.

    • Elchkuss

      Ja, das wird jeder anders empfinden. Ich habe eine Zeitlang in einer schwedischen Schule gearbeitet. Auch hier haben die Schüler die Lehrer geduzt, was ich sehr angenehm fand. Respekt hatten die Schüler dennoch.

      • Maxim Safonov

        Wie gesagt, mir ist die postsowjetische Mentalität in diesem Kontext viel lieber … Ich denke, dass ich in Skandinavien nicht erkennen würde, wo Distanz und Nähe liegt. Daher bin ich sehr glücklich darüber, dass ich nie in Skandinavien gelebt habe … Hoffentlich habe ich alles zum Thema gesagt, ich freue mich allerdings, dass junge Leute in Schweden jetzt sogar zum Siezen neigen …

      • Maxim Safonov

        Bis vor kurzem war ich Gegner des voreiligen Duzens, allerdings befürworte ich nun die niederländische Mentalität, wo man bis zum Alter von 40 Jahren generell duzt. Ich habe verstanden, dass dieses Duzen Beziehungen zwischen jungen Leuten nur erleichtert.

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