Menschen und Gesellschaft

Die Deutschen und das Bullerbü-Syndrom

Bullerbü-Syndrom

„Warum reist du dann überhaupt nach Schweden, wenn du das Land nicht magst? Bleib am besten zu Hause!“ Michi K.* scheint ziemlich aufgebracht, als er Robert* so anschreit. Ich horche auf und scrolle in der Schweden-Gruppe auf Facebook nach oben, um zu sehen, was dieser Robert Schlimmes gepostet hat – und bin überrascht. Robert hat es gewagt, sich angesichts der stärker werdenden Rechten in Schweden besorgt zu zeigen. Ich bin irritiert, weil ich nicht verstehe, weshalb er deshalb das Land nicht mögen soll. Dann kommt mir ein Verdacht: das Bullerbü-Syndrom. Könnte Michi K. ein Betroffener sein? Möglich. Vielleicht.

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Eine Suche nach einer Erklärung.

Mein früherer Chef und damaliger Leiter des Goethe-Instituts in Stockholm Berthold Franke prägte mit seinem vielbeachteten Essay im Svenska Dagbladet „Tyskarna har hittat sin Bullerbü“ 2007 den Begriff des Bullerbü-Syndroms. Bereits ein Jahr später wurde die schwedische Übersetzung, also Bullerbysyndromet, vom schwedischen Sprachrat zum Wort des Monats Februar 2008 gewählt.

Lunch an Midsommar
Nur die Sehnsucht nach einer verlorenen Kindheit? Da bleiben Zweifel; Foto: Carolina Romare / imagebank.sweden.se

Aber was hat es mit diesem Begriff auf sich? Syndrom klingt nach Krankheit. Ist es das?

Dass viele Deutsche Schweden romantisieren und verklären, ist kaum zu leugnen. Schweden ist extrem positiv besetzt. Unberührte Natur, blaue Seen, grüne Wälder, rote Holzhäuser, dazu freundliche Menschen mit blonden Haaren und strahlenden Lächeln, eine intakte Gesellschaft, ein guter Sozialstaat, der sich um seine Bürger kümmert, ein perfektes Bildungssystem. Die drei Höfe von Bullerbü und die dort lebenden, glücklichen Kinder seien eine Chiffre für dieses Ideal, so Franke. Die Welt, die von Astrid Lindgren in vielen ihrer Bücher beschrieben wurde, prägt das Traumbild, das viele von Schweden haben (wollen). So sei es kein Zufall, dass Astrid Lindgren in keinem anderen Land erfolgreicher war. Nirgends gibt es mehr Astrid Lindgren-Schulen als in Deutschland. Die Beziehung der Deutschen zu Astrid Lindgren – und damit zu ihren Welten – ist eine besondere.

Doch die Deutschen hätten nicht nur eine Sehnsucht nach schöner Natur. Dass sie Schweden – oder besser: das Bullerbü-Schweden – so lieben, sei gemäß Frankes vielmehr Ausdruck einer tiefen Sehnsucht nach einer verlorenen Kindheit, nach einem Gefühl von Heimat. Das, was man in Deutschland also nicht mehr erlebe, projiziere man auf Schweden.

Traum einer idealisierten Kindheit

Der Traum von einer eigenen idealen Kindheit und von einem Gefühl von Heimat, das wolle man sich natürlich nicht so einfach kaputt machen lassen. Was man liebt, das verteidigt man.

Folgt man Frankes These vom Bullerbü-Syndrom, erklärt dies, weshalb schnell um sich geschlagen wird, wenn da einer ankommt und behauptet, das schwedische Krankenwesen sei beschämend. Oder die Schule in Schweden habe ziemliche Probleme. Oder dass der gesellschaftliche Zusammenhalt momentan nachlasse und der Wohlfahrtsstaat bereits seit längerem auf dem Rückzug ist. Wer Schweden angreift, beschmutzt den Traum, wie man sich die ideale Heimat vorstellt.

Gibt es das Bullerbü-Syndrom wirklich?

Bertholds Franke Ansatz würde erklären, weshalb Michi K. in der Facebook-Diskussion so unsachlich geworden ist. Aber mir bleiben Zweifel.

Zum einen an der Theorie an sich: Ja, vielleicht ist so, dass viele Deutsche ein romantisches und dabei auch etwas naives Bild von Schweden haben. Mit Sicherheit verklären viele Schweden oder glauben, dass überall in Schweden Bullerbü sei. Das mag nicht sonderlich differenziert sein. Aber sind die Bilder von anderen Ländern, die wir haben, so wahnsinnig differenzierter? Sicher gibt es Klischees, und manche negative Störungen blenden wir aus. Vielleicht ist das bei Schweden etwas stärker als bei anderen Ländern, etwas Besonderes ist es aber nicht.

Das romantische Schwedenbild mit roten Holzhäusern, schönen Seen, freundlichen Menschen, einer gesunden Entspanntheit (Stichwort lagom) und unendlicher Ruhe gibt es zudem wirklich zu finden. Das ist nicht nur Einbildung. Manche suchen genau das, weil es für sie Urlaub ist. Diese Touristen fahren nicht nach Malmö-Rosengård oder Stockholm-Rinkeby, um dort auch die andere Seite Schwedens zu entdecken, weil das nicht ihre Vorstellung von Urlaub ist. Sie wollen die Astrid Lindgren-Welt und fahren genau deswegen nach Småland – oder sonst wohin, wo sie Ruhe und Entspannung (und Holzhäuschen, Seen, Wälder) finden. Das ist weder verwerflich noch irgendein Syndrom.

Idyll und Wirklichkeit: nicht nur das Bullerbü-Syndrom
Nur eine Utopie? Nein, vielerorts eben auch Wirklichkeit; Foto: Alexander Hall / imagebank.sweden.se

Das verbale Um-sich-Schlagen hat andere Gründe

Ohne Michi K. und all die anderen, die bei Facebook und Co. verbal so um sich schlagen, näher zu kennen, vermute ich, dass sie nicht deswegen so ausfallend werden, weil sie ihre verlorene Kindheit und ihr Heimat-Ideal mit Haut und Haar verteidigen wollen. Viel wahrscheinlicher ist, dass sie nur weitere Beispiele in der endlosen Kette derer sind, die sich in sozialen Netzwerken nicht beherrschen können. Durch die (scheinbare) Anonymität und die Indirektheit der Kommunikation vergessen sie ihre Manieren. Würde man sich mit ihnen direkt, von Angesicht zu Angesicht, über Schweden unterhalten, würden sie sicherlich ganz anders reagieren.

Ich führe viele Gespräche über Schweden. Oftmals merke ich dabei, dass viele ein Schwedenbild haben, das von (positiven) Klischees geprägt ist. Beispielsweise, dass die schwedische Schule einfach perfekt sei. Wenn ich dann aber etwas differenziere und auf Problembereiche hinweise, dann zeigen sich die Gesprächspartner interessiert. Da wehrt keiner meine Überlegungen als Angriff auf das gelobte Land ab. Da schlägt keiner verbal zurück. Online sieht das anders aus.

Ohne es zu wissen, vermute ich daher, dass Michi K. nicht am Bullerbü-Syndrom leidet, sondern einfach an großer Inkompetenz, online gepflegt miteinander zu diskutieren.

Wie also umgehen mit Menschen mit Bullerbü-Syndrom?

Im Fall von Michi K. hilft nur, sachlich zu antworten und dann das Gespräch möglichst schnell zu beenden. Wie soll man aber mit jemandem umgehen, der vom Bullerbü-Syndrom betroffen ist?

Ich denke, man kann da ganz entspannt sein. Zum einen erscheint es mir ohnehin fraglich, ob es das Bullerbü-Syndrom überhaupt gibt. Zum anderen ist es mit Sicherheit keine schwere Krankheit. Man kann ja versuchen, dem anderen mal die rosarote Bullerbü-Brille abzunehmen. Wenn dann das Gespräch über aktuelle politische Entwicklungen, Gewalttaten in den Großstädten, rigide Abholzungen oder den PISA-Test aus dem Jahr 2012 (da stürzte Schweden regelrecht ab) schnell in unangenehmem Schweigen endet, dann ist es okay so. Schließlich kann es ja auch schön sein, Träume und Ideale zu haben und diese auch bewahren zu wollen.

Nur eines könnte gefährlich werden. Und auch das konnte ich schon des Öfteren in den verschiedenen Schweden-Gruppen auf Facebook lesen. Menschen, die so unzufrieden sind mit ihrem Leben in Deutschland, die alles ankotzt und dann sagen: „Ich wandere jetzt nach Schweden aus. Da ist es einfach besser.“ Diese Leute sollte man schnell vom Bullerbü-Syndrom kurieren, sonst könnte es eine böse Überraschung geben, wenn sie dann in Schweden aufwachen und feststellen, dass eben doch nicht alles Bullerbü ist.

Wie sieht du es?

Denkst du, dass Berthold Franke mit seiner These vom Bullerbü-Syndrom recht hat? Soll man Betroffene kurieren? Oder sind sie vielleicht sogar beneidenswert hinter ihrer rosaroten Brille?

Wir sind gespannt auf deine Überlegungen! Hinterlasse also sehr gerne einen Kommentar!

* Namen wurden geändert.

Beitragsbild: Ulf Lundin / imagebank.sweden.se

  1. Solange es sich um ein paar Wochen Urlaub handelt,kann die Brille ja auf der Nase bleiben. Da will man ja Träumen und es schön haben.
    Kommt es allerdings zum Thema Auswandern,da sollte die Brille allerdings verschwinden und man sollte Tatsachen ins Gesicht sehen.
    Sonst gibts wirklich ein böses Erwachen.

  2. Das Bullerbü Syndrom gibt es tatsächlich. Es wird jeden Tag mehr in Form unendlich vieler Webseiten wie Posts in sozialen Medien gespeist, die ein Bild von Schweden zeichnen, was mit der Realität nicht so sehr viel zu tun hat. Diejenigen die diese vielen Webseiten betreiben bzw. in sozialen Medien posten, leben im Regelfall interessanterweise meist gar nicht in Schweden.

    Das Ergebnis sind dann Geschichten wie die von Julia & Sven, von denen Insider schon lange wissen, wie sie dann wirklich ausging. Vor Jahresfrist noch als Stars in aller Munde sind beide schon lange wieder in Deutschland zurück und so irgend es ging, deren Spuren im Web verweht. Dies ist nur ein Beispiel. Davon gibt es leider sehr sehr viele.

    Hier lebende deutsche Ferienhausvermieter tuen ihr übriges, um das Bullerbü Syndrom zu stärken. Im permanenten Kampf um den Kunden begriffen, zeichnen diese natürlich immer ein Bild im Web, was mit der Realität nicht so seht viel zu tun hat. So wohl klingenden Namen wie Naturcamping entpuppen sich dann halt auch mal ab und an als doch recht steiniger Untergrund, wo sich eher schlecht als recht ein Zelt aufstellen lässt, was den Natur Camping Platz Betreiber nicht weiter stört. Hauptsache er hat so einen zahlenden Kunden mehr.

    Denjenigen wieder die hier permanent seit Jahren leben wird oft allein deshalb kein Gehör geschenkt, weil deren ganz praktische Erfahrung eben dann oft nicht in das ach so schöne heile Welt passt.

    Dies geschrieben von jemanden, der nicht Skandinavistik studierte, sondern der seit Jahren jeden Morgen auf das Neue und immer wieder gern Skandinavistik lebt.

  3. Danke für den Artikel! Sehr differenzierte Betrachtung, toll!

  4. Martina Endres

    Hallo, ich glaube, dass ich das Bullerbü Syndrom habe. Aber auf eine ganz eigene Art. Wenn ich einen schlechten, stressigen Tag hatte, dann schau ich abends gerne meine DVD`s „Wir Kinder aus Bullerbü an. Ganz einfach weil die Filme mich entschleunigen und beruhigen. Oder auch mal zum Lachen bringen. Es tut mit und meiner Seele einfach gut. Aber natürlich ist mir klar, dass Schweden nicht Bullerbü ist! Bin ja nicht hohl.
    Gruß aus Mannheim

    • Hej Martina!
      Ich denke, damit bist du nicht alleine. Es ist schön, wenn Filme eine solche Wirkung auf einen haben. Und da du ja nicht erwartest, Schweden sei wie Bullerbü, und ganz enttäuschst bist, wenn es doch nicht so ist, ist alles gut. 🙂
      LG, Jo

  5. Werner Schleicher

    Wie ist Schweden dann wirklich, sowohl auf dem Land, wie in der Stadt, wenn viele sagen, Bullerbue gibts nicht oder
    zumindest nicht mehr. Mein Gott, oberbayerische Biergarten Gemütlichkeit gibt es auch nicht mehr. Die dörflichen Gemeinschaften müssen sich der Realität anpassen. Ich werde nächstens einen Radlurlaub in Schweden machen und nachher von meinen Eindrücken berichten.

    • Hej Werner!
      Du findest natürlich viele Orte, die „Bullerbü“ sind – kleine Dörfchen mit roten Häusern, grünen Wäldern und blauen Seen. Dazu ein gemütliches Café und die Idylle ist perfekt. Das gibt es sehr wohl in Schweden und ist sicherlich ein Grund, weshalb viele Schweden so lieben. Das Bullerbü-Syndrom sagt nicht, dass es diese Orte nicht gäbe, sondern vielmehr, dass viele nur das an Schweden sehen wollen und andere Dinge ausblenden, quasi mit einer rosaroten Brille herumlaufen und sich ein Schweden imaginieren, das es so nicht mehr gibt (oder vielleicht noch nie gab). Nur ein Beispiel: Gerade in Småland, wo Bullerby und die Astrid Lindgren-Orte liegen, gibt es viele Landstriche, die man getrost zu den strukturschwachen Regionen zählen kann, aus denen die Leute abwandern. Oder die Vorstellung einer intakten Gesellschaft – das gab’s wahrscheinlich nicht einmal während der goldenen „folkshem“-Zeiten.

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