Gegen Bürokratie und winterliche Kälte müssen sie kämpfen. Aber der morgendliche Sprung in den See und das eigene Vandrarhem entschädigt für vieles. Katja und Hannes haben in Furudal ein Vandrarhem mit Campingplatz übernommen. Das ist ihre Geschichte:
Heute will ich endlich nach sieben Monaten Hin und Her meine schwedische ID-kort (eine Art Personalausweis) in Falun abholen. Ich bin zum dritten Mal in dieser Angelegenheit in Falun. Dafür muss ich 70 Kilometer mit dem Auto von zuhause aus zurücklegen.
Wenige Wochen zuvor hat mein schwedischer Sohn und Staatsbürger Jon beim skatteverket (Finanzamt) in Gävle in einer Gegenüberstellung eidesstattlich versichert, dass ich derjenige bin, der ich behaupte zu sein. Dafür musste er 250 Kilometer und ich 200 Kilometer zurücklegen… Am Schalter in Falun bitte ich um die Aushändigung meiner fertig gedruckten ID-kort. Sie liegt in einem Kästchen einen Meter hinter der Scheibe. Ich lege meinen deutschen Personalausweis, meinen europäischen Führerschein, meinen registreringsbevis (Registrierungszertifikat) für unser schwedisches Unternehmen und Briefe vom skatteverket vor.
Unerbittliche schwedische Bürokratie
Die Schalterbeamtin ist unerbittlich: Nein, ohne die Kopie meines Antrages, den ich vor 7 Monaten gestellt habe, oder einen deutschen Reisepass kann sie mir die ID-kort nicht aushändigen… Da kann ja jeder kommen. Alle europäischen amtlichen Identitätsnachweise zählen in Schweden NICHTS.
Und ohne eine Personennummer, dann ein Bankkonto, dann eine ID-kort, dann eine mobile Bank-ID, dann einen Swish-Zugang kannst du am schwedischen Leben nur äußerst begrenzt teilnehmen. Die digitale bestätigte Identität ermöglicht dir die Nutzung von gebührenpflichtigen Parkplätzen, von öffentlichen Toiletten, des Nahverkehres in Corona-Zeiten, die Nutzung der telefonischen und digitalen Dienste der vårdcentral (Gesundheits-/Ärztezentrum) und noch viel mehr. Rabatt-Angebote der Einkaufsläden stehen dir mit ID-kort offen. Ich kann damit Versicherungen online abschließen, Autos abmelden, Sprachkurse belegen und auf Flohmärkten bezahlen.
Schwer erreichbar in der Behörde, herzlich im Dorf
Wir wohnen in Dalarna: Hier wie überall in Schweden ist die Digitalisierung sehr weit fortgeschritten. Analoge Dienste werden kaum noch angeboten. Lange Warteschlangen am Telefon, die Nutzung von E-Diensten gehören hier für jeden Bürger zum Alltag. Es ist schwer, mit einem Menschen aus einer Behörde ins Gespräch zu kommen. Wir haben Schweden oft sehr bürokratisch erlebt.
Ganz anders ist es vor Ort in unserem Dorf Furudal: Auf Nachfrage haben uns die Leute immer sehr direkt geholfen und sind uns äußerst freundlich begegnet: bei der örtlichen Jobsuche, beim Ausleihen von Anhängern, Leitern oder Ähnlichem, beim „Trampen“ nach einem Motorschaden.
Auswandern jenseits der 50
Doch jetzt wollen wir uns erstmal vorstellen:
Wir sind Hannes und Katja, 62 und 55 Jahre, in Deutschland Förderschullehrer, nun pensioniert und beurlaubt, um ein kleines Vandrarhem mit Camping in Furudal (Region Dalarna) zu betreiben. Unser naturschöner und familiärer kleiner Campingplatz und unsere Herberge liegen direkt an einem See. Trotz unserer ruhigen und schönen Lage findet sich Infrastruktur in unmittelbarer Nähe: nur 300 Meter zu Fuß zum örtlichen Tempo Supermarkt. Tankstelle, Geldautomat, Post, Frisör, Restaurant, Bäckerei wenige hundert Meter entfernt.
Unsere Jugendherberge ist ein umgenutztes Bahnhofsgebäude aus dem Jahre 1906. Sie wurde in den sechziger Jahren zu einer Herberge umgebaut, nur sieben Zimmer darin vermieten wir gegenwärtig. Für die Zukunft haben wir uns vorgenommen, den historischen Ursprung des Gebäudes als Bahnhofsgebäude stärker zu betonen.
Bei unserer Entscheidung für ein Leben in Schweden war es uns wichtig, hier eine Aufgabe zu haben und uns in die schwedische Gesellschaft mit einzubinden. Die Arbeit in einem Vandrarhem mit einem Campingplatz sahen wir als gute und sinnvolle Möglichkeit, verschiedenen Menschen zu begegnen und ihnen die Schönheit Schwedens nahezubringen. Uns reizten die damit verbundenen abwechslungsreichen und vielfältigen Aufgaben: die Bewirtung von Gästen, die technische Instandhaltung und Renovierung sowie Verschönerung von Gebäuden und Campingplatz, Verwaltungsaufgaben (Buchführung, Steuererklärung, Buchungsabwicklung), Werbung, Homepage-Gestaltung und die Zusammenarbeit mit anderen örtlichen Unternehmen. All diese Aufgaben fordern uns täglich heraus, machen uns aber auch viel Freude.
Herausforderung Schwedisch
Allerdings stellt die schwedische Sprache noch oft eine Hürde für uns dar und wir teilen die Aussage, Schwedisch sei leicht zu erlernen, überhaupt nicht. Wir jedenfalls haben die Erfahrung gemacht, dass unsere überwiegend schwedischen Gäste sich sehr freuen, wenn man sie auf Schwedisch anspricht, darüber aber leicht vergessen, dass man gerade erst 10 Monate in Schweden lebend nicht alles verstehen kann und nicht über so einen großen Wortschatz verfügt wie sie selbst: Die Sätze sprudeln in rasenden Geschwindigkeiten aus ihren Mündern, mit zahlreichen melodischen Varianten und ungewöhnlichen Konsonanten-Kombinationen (das beliebte Wort: sjuksköterska)…. Telefonische Buchungsgespräche fordern uns voll und ganz.
Das Stichwort Sjuksköterska greifen wir doch gleich auf: Hast du auch manchmal Schwierigkeiten mit den Konsonanten? Dann höre in diese Podcast-Folge rein:
Ein Unternehmen in Schweden betreiben – nicht immer einfach
Unterschätzt hatten wir die Anforderung, unser Unternehmen wirtschaftlich zu betreiben:
Schweden fordert sehr hohe Steuern von seinen Bürgern. Auch die monatlichen Versicherungskosten für unsere Immobilie sind – anders als in Deutschland – sehr üppig: Sie sind fast so hoch wie die Energiekosten. Und die Energiekosten sind keineswegs niedrig: Ohne eine Kilowatt-Stunde Strom verbraucht zu haben, müssen wir bereits 2000 Kronen für die monatliche Grundgebühr der Stromanschlüsse zahlen. Stromanschlüsse müssen ohne Unterbrechung das ganze Jahr gezahlt werden. Eine Abmeldung des Campingplatzstromanschlusses z. B. über den Winter ist – anders als in Deutschland – nicht möglich. Dem steht gegenüber, dass in Schweden im europäischen Vergleich von den Gästen fast die niedrigsten Campingpreise gezahlt werden.
Im ersten Jahr erwarten wir optimistisch gesehen einen Umsatz von 200 000 schwedischen Kronen, denen Betriebskosten in Höhe von 150 000 Kronen gegenüberstehen. Von dem Ertrag unseres Unternehmens kann niemand leben: Es ist eine Nebenwirtschaft, die viele Herbergsbesitzer neben ihrem Hauptberuf betreiben.
Suche nach einem Nebenjob
Ich – Katja – bin gezwungen, mir einen Nebenjob zu suchen. Auf meiner Jobsuche habe ich aufgrund meiner Sprachkenntnisse und vielleicht auch meines Alters (55) bisher viele Absagen erhalten. Auf dem Land teile ich mir mit den anderen Ortsansässigen einen begrenzten Arbeitsmarkt. Als Förderschullehrerin und Ergotherapeutin verfüge ich über qualifizierte Berufsausbildungen. Trotzdem scheiterte ich in sozialen Berufsfeldern (Freizeitbeschäftigung von Schülern, Vorschulerziehung) in der Kommune Rättvik an den hohen Anforderungen für die schwedischsprachlichen Kenntnisse. Die schwedische Gesellschaft ermöglicht es allen Neubürgern an einem kostenlosen SFI Sprachkursus teilzunehmen. Wenn man jedoch wie wir auf dem Land wohnt, muss man oft 50 Kilometer und mehr zurücklegen, um an den Unterrichtsort zu kommen. Das erfordert viel Zeit und auch hohe Ausgaben für Benzin oder öffentliche Verkehrsmittel.
Heute ist der 10. Juni. Der sich nun stetig füllende Buchungskalender drängt die Sorgen um die wirtschaftliche Zukunft in den Hintergrund. Der See erreicht langsam Badetemperatur. Wir genießen es, den Tag mit einem „morgondopp“ im See zu beginnen. Immer wieder aufs Neue sind wir von der wunderschönen Landschaft fasziniert.
Harter, aber traumhafter Winter
Fast vergessen ist der Winter, den wir so noch nie erlebt hatten: Der Winter begann früh im November und erstreckte sich über 6 Monate ausgedehnt bis in den Mai. Bei -25 Grad am Morgen ist uns schon im November durch einen geplatzten Ölfilter unser schönes Auto total geschädigt worden. In der Jugendherberge machten wir täglich mit einem Infrarot-Thermometer durch das ganze Haus Temperatur-Kontrollgänge, um Frostschäden zu entdecken bzw. zu verhindern. Arbeiten außerhalb des Hauses waren nicht möglich. Alle in der ungeheizten Werkstatt gelagerten Materialien mussten in frostfreie Räume innerhalb der Jugendherberge gelagert werden. Motorwärmer mussten in die Autos eingebaut werden und zwei bis drei Stunden vor Fahrtantritt eingeschaltet werden. Vor jeder Fahrt musste winterfeste Kleidung eingepackt werden für den Fall, dass wir mit dem Auto eine Panne haben. Nach Groß-Einkäufen in der entfernten Stadt mussten die Lebensmittel schnell in frostfreie Bereiche gebracht werden.
Noch am 10. Mai mussten wir mitten in der Nacht aufstehen, um die erfrorenen Wasserleitungen des Campingplatzes wieder aufzutauen. Jedoch wurden wir im Winter entschädigt durch fast durchgängig sonniges Wetter, zugefrorene Seen, wunderschöne Langlaufloipen, Schnee in nie gesehenen Mengen.
Weihnachten und Silvester durften wir dank schwedischer Gastfreundschaft in einer Familie aus der Nachbarschaft verbringen: Und haben gelernt: Kalle Anka (Donald Duck) und Alkohol sind fester Bestandteil des schwedischen julaftons.
Und ewig schläft das Murmeltier… Würden wir etwas anders machen, wenn wir noch einmal auswandern würden? Ja.
- Wir würden uns einen Reisepass in Deutschland ausstellen lassen und von Deutschland aus auch schon versuchen, im direkten Gespräch mit einem skatteverk-Mitarbeiter in Schweden die für uns individuell erforderlichen Papiere zu erfassen.
- Wir würden noch intensiver unsere schwedischen Sprachkenntnisse erweitern.
- Wir würden keine eigenen deutschen Autos einführen, sondern uns in Schweden winterfeste Autos kaufen.
Und was würden wir immer wieder genauso machen:
- Wir würden wieder aus dem Bauch heraus trotz vieler Unwägbarkeiten uns für unser Traum-Vandrarhem und Camping entscheiden.
- Wir würden wieder an einen See oder an das Meer ziehen.
- Wir würden wieder eine komplette Backausrüstung aus Deutschland inklusive aller Zutaten mitnehmen.
Hier gelangst du zu Katjas und Hannes‘ Vandrarhem in Furudal / Dalarna: www.furudalsvandrarhem.se
Du bist selbst nach Schweden ausgewandert oder hast es vor? Was sind deine Erfahrungen? Hinterlasse gerne einen Kommentar!
Alle Bilder in diesem Artikel: Katja und Hannes Titze
Lieben Dank für diesen Ausführlichen Bericht und eure Erfahrungen bezüglich einer Auswanderung nach Schweden. Euer Wohnort ist ja schon recht weit im Norden gelegen. Ein Grundstück oder Haus am See ist auch unser Traum. Wir haben nur drei Kinder im Gepäck und würden uns daher eher in dem südlichen Teil von Schweden orientieren . Auch ein Campingplatz war eine unserer Ideen. Wir arbeiten in Deutschland zur Zeit auch im Gasfüllbetrieb bzw trumaservice Bereich.
Da wir in Deutschland selbstständig sind, ist es nicht ganz so leicht hier alles abzubrechen. Dennoch hoffen wir auch eine Chance im Leben, die uns diesen Ausstieg ermöglicht.
Wünsche euch weiterhin alles Gute. Vielleicht kommen wir mal mit unserem Wohnwagen auf eurem Campingplatz.