Karl Oskar schaut auf und blickt in den wolkenlosen Himmel, von dem die Sonne seit Tagen, nein, es sind Wochen und Monate unbarmherzig auf die Äcker Smålands scheint. Die Erde ist rissig, das Getreide will nicht wachsen. Nach dem feuchten Sommer im vergangenen Jahr, der Missernte und dem harten Winter kann er ein weiteres schlechtes Jahr nicht verkraften. Wie soll er seine Kinder durchbringen? Wie die Hypothek auf seinen Hof abbezahlen? Abends sitzt er mit seiner Frau vor dem Kamin und wieder diskutieren sie, was seit Wochen in ihren Köpfen herumspukt. Er weiß, dass Kristina zweifelt. Aber er weiß auch, dass dieser Plan der einzige ist, der ihnen eine bessere Zukunft bescheren kann. Sie müssen aus Schweden auswandern. Nach Amerika.
Ähnliche Pläne haben auch andere Leute in Ljuder in Småland. Der eine wird als Knecht von seinem Bauern verprügelt, die andere steht als Hure ohnehin am Rand der Gesellschaft. Wieder ein anderer gerät aufgrund seiner freikirchlichen Umtriebe in Konflikt mit dem streng über seine Schäfchen wachenden Pfarrer. Es sind höchst unterschiedliche Menschen mit höchst unterschiedlichen Gründen, aber sie alle eint ein gemeinsames Ziel: Sie wollen ihre Heimat verlassen, um in der unbekannten neuen Welt ein neues Glück zu probieren.
Auswandern aus Schweden
Heute klingt das unvorstellbar: Schweden setzen alles aufs Spiel, nur um ihre Heimat verlassen zu können? Heute ist Schweden für viele ein Sehnsuchtsland mit funktionierendem Sozialstaat, wohlhabend, angenehm zum Leben. Viele möchten gerne nach Schweden einwandern. Aber von dort auswandern?
Doch das Schweden in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts hat nur wenig mit dem gemein, das wir heute kennen. Der Großteil der Schweden waren Bauern. Eine rasche Zunahme der Bevölkerung in Kombination mit mehreren Missernten stürzte die ohnehin schon arme Landbevölkerung in Hunger und Not. Besonders schwer war Småland mit seinen harten und steinigen Böden betroffen. Zugleich sorgte die Obrigkeit in Form des Adels und der Krone sowie die vor allem auf dem Land einflussreiche lutherisch-evangelische Kirche dafür, dass sich an den gesellschaftlichen Zuständen wenig änderte.
Sehnsucht Amerika
Aber die meisten der schwedischen Bauern konnten lesen. So erfuhren sie zum einen von Revolutionen in Frankreich und Deutschland, in denen die Bürger für mehr Freiheiten kämpften. Und zum anderen konnten sie in den Zeitungen von jenem neuen Land lesen, in dem so vieles besser schien: die Vereinigten Staaten von Amerika. Die Menschen dort waren frei, sie hatten keinen König, niemand schrieb ihnen vor, was und wie sie zu glauben hatten. Und dann kamen noch die Reiseberichte der ersten Auswanderer hinzu. 1841 wanderte Gustav Unonius mit seiner Frau und einigen Gefährten aus und gründete in Wisconsin den Ort New Upsala. Seine schwärmerischen Berichte, die im „Aftonbladet“ erschienen und in denen er vom billigen und massenhaft zu erwerbenden Land schreibt, weckten bei anderen schwedischen Bauern die Sehnsucht, ebenfalls auszuwandern.
Und sie folgten scharenweise: Zwischen 1850 und 1920 sollen etwa 1,5 Millionen Schweden in die USA ausgewandert sein; rund ein Fünftel kehrte wieder zurück. Für Schweden war dies ein gewaltiger Aderlass, der die Obrigkeit irgendwann doch beunruhigte. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts folgten erste Reformen, die die Situation der einfachen Bevölkerung etwas verbesserte.
Schritt ins Unbekannte
Die Protagonisten des Romans Karl Gustav, Kristina und die anderen Auswanderer gehören zu den Emigranten der ersten Generation. Ende der 1840er Jahre beschließen sie den Schritt ins Unbekannte. Sie wissen kaum etwas über ihr Sehnsuchtsland. Nur Karl Gustavs Bruder Robert hat sich ein Buch über die USA besorgt, in dem er allerhand Wahres und Unwahres liest und sich so sein ganz eigenes Bild des Landes, in dem seiner Meinung nach Milch und Honig fließen, zusammenschustert.
Hier liegt der große Reiz des Romans „Die Auswanderer“ von Vilhelm Moberg, der 1949 unter dem Titel „Utvandrarna“ erschienen ist. Der Erzähler nimmt sich über weite Strecken zurück. Er kommentiert kaum, sondern lässt seine Figuren sprechen. Und zwar mit allem Unfug, Wunschdenken und allen Träumereien, die den Auswanderern so durch den Kopf gehen. Dadurch nimmt Moberg die Figuren des Romans ernst – auch wenn sie ungebildet, schwärmerisch oder ungehobelt sind. So entstehen glaubwürdige Personen und zugleich immer wieder auch Witz, beispielsweise als Robert in einem Kapitel sich zusammenreimt, wie traumhaft es wohl in New York sein muss, und im nächsten Kapitel der Kapitän des Auswandererschiffs, der bereits mehrfach in New York gewesen ist, über diese hässliche Stadt lästert.
Moberg bemüht sich um eine große Portion Realismus, wodurch der Leser nicht nur einen hervorragenden Einblick in das harte Leben im Schweden des 19. Jahrhunderts erhält, sondern auch vor manche sprachliche Herausforderung gestellt wird. Sprechen die Figuren in direkter Rede, dann reden sie so, wie die Menschen in dieser Zeit eben redeten. Wer den Roman also auf Schwedisch liest, der wird mit småländischem Dialekt des 19. Jahrhunderts konfrontiert, im Fall der Hure Ulrika sogar noch garniert mit einigen altertümlichen Kraftausdrücken.
Detailreiche Beschreibung des schwedischen Landlebens im 19. Jahrhundert
Doch diese detailgetreue, realitätsnahe Darstellung sorgt dafür, dass der Leser sich im besten Sinne des Wortes ein Bild machen kann vom harten Leben auf dem Land und vom noch härterem während der Überfahrt über den Atlantik. Und er lernt die Figuren, ihre Hoffnungen und Ängste ganz genau kennen. Da es viele Auswanderer sind und Moberg sie alle mehrfach zu Wort kommen lässt, entstehen dadurch auch gewisse Längen, die sich im Ganzen aber in Grenzen halten.
In der schwedischen Taschenbuchausgabe aus dem Jahr 2016 begleitet man Karl Oskar und Co. über 573 Seiten auf ihrem Weg nach Amerika. Doch dies ist nur der erste Teil der Tetralogie. Wer wissen will, wie es den Auswanderern in Amerika ergeht, der darf ihnen in „In der neuen Welt“, „Die Siedler“ und „Der letzte Brief nach Schweden“ (schwedische Orginaltitel „Invandrarna“, „Nybyggarna“ und „Sista brevet till Sverige“) zuschauen.
In konservativen Kreisen kam Vilhelm Mobergs Auswanderersaga im Übrigen gar nicht gut an. Sie sei unpatriotisch, ziehe die Kirche in Misskredit, außerdem sei der realistische Sprachgebrauch skandalös. Axel Rubbestad, Reichstagsabgeordneter für den Bauernverbund, wollte Moberg gar im Gefängnis sehen. Dazu kam es nicht. Vielmehr konnte Mobergs Roman-Serie eine ungeahnt erfolgreiche Laufbahn feiern, sodass die vier Bücher heute zu Klassikern der schwedischen Literatur zählen.
Auf Deutsch wird der Roman leider nicht mehr aufgelegt. Hier ist man auf gebrauchte Exemplare angewiesen. Wer ohnehin lesefaul ist, kann sich die preisgekrönte Verfilmung aus dem Jahr 1971 mit Max von Sydow* in der Hauptrolle besorgen. Oder man wagt sich an das schwedische Original* heran. Es lohnt sich.
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Die schöne vierbändige Büchergilde-Ausgabe des Romans ist durchaus noch antiquarisch zu haben, z.B. bei Booklooker; gelegentlich auch auf ebay (z.B. in 17min, für 80 €).