Betrachtet man die Bevölkerungszahlen, ist Ångermanland ein kleiner unbedeutender Landstrich im nördlichen Mittelschweden. Nur 130.000 Menschen leben hier. Und seit den 1950er Jahren geht die Bevölkerung sogar zurück. Aber Ångermanland ist reich an Natur, mystisch und gewaltig. Und es hält so manche Rekorde. „Sveriges vackraste landskap“, Schwedens schönste Landschaft sagt die offizielle Homepage der Region über sich selbst. Gut, das behaupten wahrscheinlich alle Regionen von sich. Aber es könnte etwas dran sein an der Aussage.
„Ånger“ ist Altschwedisch und bedeutet „Bucht“. Die schwedische Landschaft zwischen Medelpad und Västerbotten ist also das „Land der Buchtmänner“. Diese Bucht, von der der Landstrich seinen Namen bekam, wurde wiederum von einem mächtigen Strom gebildet, der die Region bis heute prägt: der Ångermanälven.
Bei Kramfors, der mit etwa 6000 Einwohnern kleinsten der vier Städte der Region, mündet der mächtige Strom ins Meer und bildet hier besagte Bucht, der einzige wirkliche Fjord an der schwedischen Ostküste. Kramfors liegt sehr hübsch, ist aber keine besonders sehenswerte Stadt. Der Name hat übrigens nichts mit einer Umarmung zu tun (schwedisch kram), sondern leitet sich von Christoffer Kramm ab, der im 18. Jahrhundert hier ein Sägewerk errichtete, das die Stadt beflügelte und wachsen ließ.
Die Lebensader der Region: der Ångermanälven
Der 463 Kilometer lange, majestätische Fluss ist die Lebensader von Ångermanland. Früher trieb er eine Vielzahl an Sägewerken an. Entlang des Flusses entwickelten sich mehrere Ortschaften, die alle von der Holzwirtschaft lebten. Dampfsägewerke entstanden, viele verdingten sich in der Flößerei. Auf keinem Fluss in ganz Schweden wurde im Lauf der Geschichte mehr Holz geflößt als auf dem Ångermanälven. Heute ist er gerade im Unterlauf weitestgehend begradigt und mit vielen Wasserkraftwerken versehen. Bis Sollefteå ist er schiffbar.
Für die Stromgewinnung und für die Wirtschaft ist der Fluss daher bis heute von großer Bedeutung. Aber auch für die Whiskey-Produktion. Ja, in Ångermanland wird Whiskey hergestellt. Die High Coast Destillerie in Marieberg nutzt das Wasser des Flusses zur Kühlung.
Ansonsten ist der Fluss heutzutage aber vor allem ein großes Freizeitparadies. Man kann hier hervorragend angeln, Lachs zum Beispiel. Besonders unterhalb des Kraftwerks bei Sollefteå tummeln sich die Lachse. Dass der Lachs für Ångermanland ein wichtiges und prägendes Tier ist, verrät auch der Blick auf das Wappen der Region. Vor blauem Hintergrund sind hier drei große Lachse zu sehen. Wer nicht so gerne angelt, kann auf dem Fluss Kanu oder Kajak fahren.
Spuren bis zurück in die Frühzeit
Folgt man dem Strom flussaufwärts, gelangt man irgendwann nach Nämforsen. Dieser Ort ist bereits seit Jahrtausenden besiedelt, wie Funde aus der Stein- und Eisenzeit belegen. Und hier wartet ein weiterer Rekord: Über 2300 Felsritzungen (hällristningar) gibt es hier. Sie mögen vielleicht nicht ganz so imposant und gut erhalten sein wie die von Tanum in Bohuslän, aber es sind eben ziemlich viele. In Örnsköldsvik steht sogar ein rekonstruierter Hof aus dem Jahr 0. So weit im Norden gibt es keine vergleichbaren Funde. Aber zu Örnsköldsvik, der größten Stadt der Region, kommen wir später noch. Sie liegt weiter im Norden. Noch sind wir aber im Süden am Ångermanälven und in Kramfors.
Ein paar Kilometer südöstlich von Kramfors, dort, wo die große Bucht bald das Meer erreicht, spannt sich über 1800 Meter Länge eines der faszinierendsten Bauwerke Schwedens über das Wasser: die Högakusten-Brücke. 180 Meter Höhe messen die Pfeiler der Brücke, deren Vorbild die Golden Gate Bridge von San Francisco ist. 1997 wurde sie eingeweiht; seitdem ist der Weg gen Norden über die E4 deutlich kürzer.
Das Herz von Ångermanland: die Höga kusten
Das Bauwerk ist daher sehr praktisch, es ist vor allem aber auch schön. Vom Hotel Höga kusten am Nordende der Brücke hat man einen fantastischen Ausblick auf die Hängebrücke. Ganz besonders schön ist sie, wenn Nebel über der Bucht liegt und nur die Pfeiler und die mächtigen Seile aus dem Nebelmeer herausragen.
Der Name der Brücke verrät es schön: Wir sind an der Höga kusten, der Hohen Küste. Sie ist das Wahrzeichen Ångermanlands und zählt zu den absolut schönsten und beeindruckendsten Naturphänomen in Schweden.
Die Hohe Küste ist nicht nur hoch, sie wird auch immer höher. Seit sich die Gletscher der letzten Eiszeit zurückgezogen haben, hebt sich die skandinavische Landmasse – die sogenannte skandinavische Landhebung. An manchen Stellen zeigt sie sich stärker, an anderen Orten kaum. An der Höga kusten ist die Landhebung besonders ausgeprägt. In den vergangenen 10.000 Jahren hob sich die felsige Küste um 300 Meter. Vor ein paar tausend Jahren waren es bis zu 10 Zentimeter, die sich Jahr für Jahr nach oben hievten. Aktuell sind es nur noch 8 Millimeter pro Jahr. Orte, die an der Hohe Küste heute also 200 oder 250 Meter über dem Meer liegen, befanden sich vor 10.000 Jahren noch unter Wasser.
Mystisch und traumhaft schön: der Skuleskogen
Nicht nur deswegen gehört die Hohe Küste zum UNESCO-Welterbe, sondern vor allem auch deswegen, weil die fantastisch-schöne Natur einzigartig ist und deswegen bewahrt werden will. 2006 wurde das Welterbe um die Kvarken Schären an der gegenüberliegenden finnischen Küste erweitert.