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„Wintersonnenwende“ – fesselnder Pageturner aus dem Stockholmer Rotlichtmilieu

Stockholm Nordlichter

Schweden 1994/1995 – eine Zeit des Jubels, der Tristesse, des Wandels. Bei der WM in den USA feiern die schwedischen Fußballherren mit Platz 3 ihren größten Triumph. Wenige Monate später sinkt die Estonia auf den Grund der Ostsee. Die schwedische Wirtschaft kriecht nur langsam aus den Jahren der Rezession. Schweden tritt der EU bei. Der Kauf von Sex ist noch lange nicht illegal, die Prostitution blüht. Vor diesem Hintergrund ermittelt der Polizist Tomas Berg im neuen Roman „Wintersonnenwende“ von Pascal Engman und Johannes Selåker, während Journalistin Vera Berg auf der Jagd nach einer großen Story ist. Es entwickelt sich ein spannender Plot, das Buch ist ein wahrer Pageturner.

In einem Bordell wird ein Freier erschossen, die Prostituierte Lucy entkommt nur knapp. Tomas Wolf und sein Kollege Zingo nehmen die Ermittlungen auf, werden aber rasch von der Säpo, der schwedischen Sicherheitspolizei, ausgebremst. Wenig später gibt es einen zweiten Toten: ein Nachtclubbetreiber und Produzent widerlicher Pornos ist brutal ermordet worden.

Beide Fälle scheinen zunächst nichts miteinander zu tun zu haben, doch bald wird Tomas und Zingo klar, dass es einen Link gibt: Lucy. Doch wer ist sie oder wo hält sie sich versteckt?

Auch Vera Berg, Star-Journalistin bei der Boulevard-Zeitung Aftonbladet, ist an den beiden Morden dran und auch sie erkennt bald, dass Lucy der Schlüssel ist. Dazu muss sie mit den beiden Ermittlern zusammenarbeiten. Doch zugleich hegt sie gegen Tomas einen schlimmen Verdacht, dem sie ebenfalls nachgeht.

„Wintersonnenwende“ – rasanter Plot, gekonnte Cliffhanger

So entwickelt sich ein rasanter Plot. Lucy wird von der Polizei gesucht, von Vera Berg und offensichtlich auch vom Mörder. Die Jagd nach der Prostituierten führt die Protagonisten quer durch Stockholm und raus aus der Stadt bis auf die „Straße der Schande“, den fürchterlichen Straßenstrich an der Straße zwischen Prag und Dresden, der in den Wirren nach dem Fall des Eisernen Vorhangs entstand.

Zugleich stellt sich der Leser die Frage, ob es wirklich um Prostitution bei den Morden ging. Denn welche Rolle spielt die verstorbene und mysteriöse Mutter von Lucy? Und was hat es mit den beiden Männern auf sich, die sich im Prolog am Tresen der Bar der Estonia unterhalten, kurz bevor das Schiff untergeht und 850 Menschen in den Tod reißt?

Den beiden Autoren Pascal Engman und Johannes Selåker gelingt es äußerst geschickt, Fährten zu legen, Verdachte zu schüren, Cliffhanger zu setzen. Erzählt wird aus drei Perspektiven – mal begleitet man Tomas, mal Vera und hin und wieder auch Lucy. Pause zu machen, ist fast unmöglich. Und so fliegt man durch den beinahe 400 Seiten starken Pageturner.

Einer der ältesten Aussichtspunkte in Stockholm: Katarinahissen
Stockholm: In Wintersonnenwende ein kalter, düsterer Ort.

Nordic Noir vom Feinsten, nur nicht bei der Figurenzeichnung

Der Plot ist absolut gekonnt entwickelt. Dazu eine klare, harte Sprache und gesellschaftliche Schieflagen, hier die Abgründe der Prostitution, die thematisiert werden. Ein Nordic Noir-Krimi vom Feinsten.

Gewisse Abzüge erhält der Roman jedoch bei der Figurenzeichnung. Zwar bekommen die Protagonisten durchaus Tiefgang, da die Erzählperspektive wechselt und der Leser so Einblicke in das Innenleben von Tomas, Vera und Lucy erhält. So düster die dunkle Nacht der Wintersonnenwende ist, so finster sieht es aber auch mit den Figuren aus. Tomas, schwer gezeichnet von seiner Zeit während der UN-Mission im ehemaligen Jugoslawien, hat grobe Aussetzer, kann aber offensichtlich dennoch ungestört weiter Polizist sein. Als Jugendlicher war er Mitglied der White Power-Bewegung, in die ihn sein älterer Bruder hineingezogen hat. Dieser ist jetzt spurlos verschwunden.

Vera wiederum hat sich von ihrem Freund getrennt, einem Gangsterboss, dessen Sohn Sigge plötzlich vor Veras Tür steht. Allein ist er von Malmö nach Stockholm gefahren. Vera scheut sich wiederum nicht, den Kleinen mit auf gefährliche Recherchen zu nehmen.

Das ist manchmal ein bisschen zu viel des Guten.

Auch kommen, gerade gegen Ende, ein paar Wendungen zu plötzlich, zu gewollt. Der Plot steht über allem und zwingt die Figuren und vereinzelt die Logik zu Abstrichen.

Leseempfehlung für „Wintersonnenwende“

Davon abgesehen ist „Wintersonnenwende“ (im Original: Skammens väg (Straße der Schande)) aber ein äußerst dichter, rasanter, oft auch brutaler Krimi, der eine Atmosphäre entwickelt, die so eisig ist wie die schwedische Winternacht. Punkten kann das Werk neben dem spannenden Plot damit, dass die Handlung geschickt in die Geschehnisse in Schweden in den Jahren 1994 und 1995 eingebettet wird.

„Wintersonnenwende“ ist der zweite Krimi rund um Vera Berg und Tomas Wolf, nachdem die beiden schon im ersten Band „Sommersonnenwende“ aufeinandergetroffen sind. Und so, wie das Ende des zweiten Bands angelegt ist, wird es auch schon bald eine Fortsetzung geben. Freunde von Berg und Wolf dürfen sich also freuen.

„Wintersonnenwende“ von Engman und Selåker; Cover des Buchs – Copyright: Ullstein-Verlag

„Wintersonnenwende“ erschien am 26. September 2024 im Ullstein Verlag. Das 384 Seiten starke Paperback kostet 17,99 Euro.

Beitragsbild: Jann Lipka / imagebank.sweden.de

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